Nephilim
Engels hinter seiner Stirn nagte wie ein Wurm an einem faulenden Apfel, und stieß die Luft aus. Die Throne waren vernichtet worden durch eine Macht der Dunkelheit – und er hatte es nicht verhindert. Bhrorok war wie vom Erdboden verschluckt, ganz zu schweigen von dem Teufelssohn, nach dem er suchte. Er hatte den Auftrag der Königin ausgeführt, er hatte herausgefunden, wer die Morde an den Engeln begangen hatte – und aus welchem Grund. Wie stets hatte er ihr ausführlich Bericht erstattet, doch nun hatte sie ihn ohne jede Erklärung rufen lassen, noch dazu nicht in ihren Palast in Nhor’ Kharadhin, sondern an diesen Ort zwischen den Welten. Aus welchem Grund? Um über sein Versagen zu lächeln?
Als hätte er seine Gedanken gelesen, trat in diesem Moment ein Engel aus der schmalen, mit silbernen Beschlägen versehenen Tür und bat ihn höflich, ihm zu folgen. In einigem Abstand ging Avartos ihm nach, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und ließ den Blick durch die lichtgefluteten Korridore, Bibliotheken und Säle schweifen, die sie durchquerten. Ihnen begegneten zahlreiche Engel, einige in kostbaren Seidenroben, andere in der militärischen Uniform der Leibgarde der Königin, deren Silber mit Platten aus gebürstetem Stahl besetzt war und die sich den Bewegungen ihrer Träger anpasste wie Wasser einem berstenden Felsen. Kaskaden aus Licht stürzten vor den Fenstern in die Tiefe, und Avartos lauschte wie jedes Mal, obgleich er wusste, dass er nichts hören würde. Das Licht der Engel, das stellte er immer wieder fest, als wäre er ein ahnungsloser Mensch, hatte keine Stimme.
Schließlich blieben sie vor einer breiten Tür aus geschliffenem Glas stehen. Bunte Funken sprangen von innen dagegen und verwandelten sich in ein Feuerwerk aus Farben. Der Engel bedeutete Avartos, einzutreten. Ohne ein Wort folgte dieser dem Fingerzeig.
Wie immer war das Erste, das Avartos wahrnahm, die gläserne Kälte, durchzogen von farbigen Funken aus Licht. Mit zärtlicher und doch grausamer Kraft drang sie ihm in die Lunge, legte sich auf seine Stirn und bettete jedes Gefühl, jede hitzige Regung umgehend zur Ruhe. Ein Ort der Stille war es, an den er gekommen war, ein Ort wie eine Kirche oder ein Grab.
Eine kristallene Kuppel, getragen von sieben Säulen, wölbte sich über dem Mosaik aus goldenem Marmor, das den Boden bedeckte und eine weiße Sonne zeigte. Der Nachthimmel und die Umrisse Nhor’ Kharadhins wirkten verzerrt unter der Kuppel, denn sie fing das Licht der Sterne ein und verwandelte es in Lanzen aus Silber, die nach einer Weile in glühende Funken zerbrachen und als farbige Kristalle durch die Luft flogen. Am Ende des Raumes stand ein Thron aus weißem Marmor, der auf den ersten Blick aussah wie ein kunstfertig geschaffener Herrschersitz aus Eis. Und darauf saß, die Hände gelassen auf den breiten Lehnen abgestützt, die Königin der Engel und schaute reglos zu Avartos herüber.
Sie trug eine Korsage aus dunkelblauem Samt, darüber einen Gehrock mit weiten Schößen und eine eng anliegende schwarze Hose. Hohe Stiefel reichten bis zu ihren Knien, ein breiter Gürtel lag um ihre Hüfte, und um ihren rechten Oberschenkel hatte sie ein Lederband geschlungen, an dem ein goldenes Messer hing. Um den Hals trug sie ein reich verziertes Collier, das sich ihrem Körper anpasste wie flüssiges Gold. Der obere Teil des linken Ärmels ihres Gehrocks fehlte, stattdessen wanden sich Schnüre aus schwarzem Stahl um ihr Fleisch und hielten den Dolch, den sie an ihrem Unterarm trug. Ihr helles Haar fiel bis auf ihre Knöchel hinab, seidenglatt strömte es über ihre Schultern. Ihre Haut war fast durchscheinend bleich, ihre Augen jedoch so dunkel, als hätte sie die Nacht darin gefangen. Erst auf den zweiten Blick verwandelte sich die Schwärze in tiefes, eiskaltes Gold. Sie hob die linke Hand, die in einem Handschuh aus schwarzem Leder steckte, und Avartos trat vor, ging respektvoll vor ihr in die Knie und neigte den Kopf.
»Königin Anlorya Marvenor Nhubys, Gebieterin über die Winde Pharlaghons und die Feuer der Roten Steppe, Herrscherin über das Volk der Ewigen, empfangt meinen Gruß.«
Sie schwieg wie immer, wenn er zu ihr kam, und erwiderte erst nach einer Weile: »Erhebt Euch.«
Ihre Stimme war dunkel wie ein Sturmwind, und als Avartos den Blick hob und sie ansah, bemerkte er wie bereits etliche Male zuvor die Dunkelheit, die sich unter ihrer bleichen Haut entlangschob, die Schatten, die sie in einem einzigen ihrer
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