Nephilim
mächtiger Vogelschwarm. Er wandte den Kopf – und fuhr zusammen, als hätte ihn ein Schlag getroffen.
Im ersten Moment glaubte er, dass es Wolken wären, die dort wie wütende Heere über den Himmel zogen, den Mond verdeckten und sich über dem Forum zu tosenden Wellen türmten. Doch dann sah er die Schwerter, sah Schwingen aus Licht und Finsternis, und er wusste: Es waren keine Wolken, die den Mond verdunkelten. Engel waren es, so viele, dass der Himmel durch ihre Körper schwarz wurde.
22
Die Engel glitten durch den Wall, der über dem Forum Romanum lag, ohne ihn auch nur zum Erzittern zu bringen, und stürzten in mächtigen Formationen auf die Nephilim nieder. Viele ritten auf geflügelten Pferden, andere trieben Chimären mit schwarz flammenden Körpern an Ketten vor sich her, landeten auf den Rundbögen der Maxentiusbasilika und ließen die Blicke kühl und suchend über die Ruinen gleiten, ehe sie die Ketten mit einem Blick zerbrachen und ihre Untiere sich mit lautem Geheul vorstürzten.
Erst das Heulen der Chimären riss Nando aus seiner Starre, doch es war schon zu spät. Ein Lichtblitz krachte direkt neben ihm in den Boden, er landete auf dem Rücken. Sofort rappelte er sich auf, Riccardo und die anderen waren aus seinem Blickfeld verschwunden. Er schaute nicht nach oben, er hörte sie genau, die kalten Schreie der Engel, die ihn jagten. Instinktiv duckte er sich und rannte auf die Ruine des Faustina-Tempels zu. Atemlos presste er sich gemeinsam mit anderen Novizen gegen eine halb eingestürzte Mauer und starrte zu den Engeln hinauf, die als gewaltige Schwärme durch die Luft fegten. Wenn bei einem Training an der Oberwelt Engel auftauchten, gab es für Nephilim in der Ausbildung nur ein Gesetz: fliehen und keinen Kampf riskieren. Schon eilten die Ritter Bantoryns heran, Nando sah Silas an vorderster Front. Mit eindrucksvollen Zaubern trieben sie Keile in die Scharen der Engel, packten hilflos zusammengebrochene Novizen und trugen sie geradewegs auf den Triumphbogen des Septimus Severus zu.
»Das Portal!«, rief Nando den anderen zu. »Es ist unsere einzige Chance!«
Gemeinsam wirkten sie einen Schutzwall, der sich als zitternde Blase über sie legte, und flogen, so schnell sie konnten, auf das Portal zu. Sie hielten sich dicht beieinander, die geschwächten Nephilim in ihrer Mitte, die Fäuste mit Abwehrzaubern in Richtung der Engel gestreckt. Nando eilte an der Spitze dahin, sein Blut rauschte in seinen Ohren. Dutzende Male hatten sie diese Situation geübt, waren in den Kampfräumen der Akademie vor den metallenen Engeln Morpheus’ geflohen und hatten einander mit Leib und Leben geschützt. Doch nun, da er die reglosen Gesichter der Engel sah, die immer wieder auf sie niederstürzten und ihren Wall zum Beben brachten, nun, da er ihre Angriffe abwehrte und nicht bloß einmal nur mit Mühe einen Nephilim in seiner Nähe vor einem Sturz bewahren konnte, schien es ihm, als wäre er in keinster Weise auf eine solche Lage vorbereitet worden. Von einem Augenblick zum nächsten hatte das Forum sich in einen Schauplatz der Furcht verwandelt, einen Sog des Todes und des Zorns, aus dem es kein Entrinnen gab. Denn selbst wenn ihm die Flucht gelänge, würden die Bilder niemals mehr verschwinden: die kalten Gesichter der Engel, die Verwundeten und der Rauch, der aus den Ruinen aufstieg, gepaart mit den Schreien der Nephilim und dem grausamen Geruch von Blut, Metall und verbranntem Fleisch.
Nando warf eine Flammenpeitsche aus seiner linken Faust und hieb damit nach einer Chimäre, einem Untier mit einem Löwenkörper und drei Köpfen: dem eines Löwen, einer Schlange und einer Ziege. Die Kette lag ihr lose um den Hals, blaue Flammen schossen aus ihrem Schlund, als sie Nandos Hieb auswich. Fauchend schlug sie mit der Pranke nach dem Schutzwall, Nando schrie auf, als sie ihre Krallen tief hineingrub. Es war, als würde sie sein Fleisch zerreißen, und auch die anderen Nephilim keuchten vor Schmerzen. Zornig wirkte Nando einen Donnerzauber, der die Chimäre krachend gegen eine Mauer warf.
Endlich erreichten sie das Portal. Zahlreiche Ritter sicherten den Bereich ringsherum, und Drengur stand inmitten der flammenden Säule. Seine Gestalt wirkte wie brennend, seine Augen standen in schwarzer Glut, und er bewegte die Arme wie in Strömen aus Wasser, während er das Portal aufrechterhielt und mächtige Zauber als Schlingen aus Licht gegen die Engel schleuderte, die in monströsen Trauben auf die Säule
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