Nephilim
Novizen, als Sohn, der am Grab seiner Eltern stand und dessen Augen schwarz geworden waren wie die Noemis, und als Ritter, der sein Leben der Freiheit der Nephilim gewidmet hatte. Er sah ihn im Kampf, sah ihn zornig, traurig, glücklich, sah ihn auch verzweifelt, in dunklen Gassen und auf nächtlichen Feldern allein mit sich. Und er sah den Bruder, der seine Schwester vor dem leeren Bett ihrer verstorbenen Eltern fand, wo sie zusammengekrümmt auf dem Fußboden schlief, und sie vorsichtig zurück in ihr Zimmer trug.
Fast hätte Nando innegehalten, als dieses Bild in ihm aufflammte: die große, vom fahlen Licht der Straßenlaternen beschienene Gestalt von Silas, der Noemi aufhob und mit ihr in dem dunklen Zimmer stand. Ihr Kopf lehnte an seiner Brust, sie sah friedlich aus in seinen Armen, und über seinen gerade noch zornig verzogenen Mund legte sich ein Lächeln – sein Lächeln, das Nando einen Schauer über den Rücken schickte. Silas hatte denselben Zorn in sich gehabt wie Noemi, dieselbe Wut, denselben Hass, doch er hatte sich für etwas entschieden, das auch in ihm lebte, schwach vielleicht und unscheinbar im Angesicht der finsteren Verzweiflung, die ihn anfüllte, aber dennoch mächtiger als sie. Silas hatte sich nicht aus Verzweiflung dafür entschieden, sein Leben für die Nephilim zu geben. Er hatte es aus Liebe getan.
Der letzte Ton flammte über die Saiten der Geige, und als Nando den Bogen sinken ließ und sich mit dem Handrücken über die Augen fuhr, fühlte er sich so leer und blind, wie der Nebel es war, der vor ihm lag. Niemals hatte er so voller Hingabe gespielt wie in den vergangenen Augenblicken, es war, als hätte er einen Teil seines Selbst zu Silas in die Flammen geschickt, um es nun erneuert und fremd zurückzunehmen. Wie selten zuvor, seit er in die Unterwelt gekommen war, sehnte er sich danach, mit jemandem sprechen zu können – nicht mit Kaya oder Morpheus, auch nicht mit Antonio – nein, sondern mit jemandem wie ihm, einem Nephilim, der diesen Zwiespalt zwischen Mensch und Engel oder Dämon begreifen oder zumindest empfinden konnte. Die Geige zog seine Hand nieder, die Lider wurden ihm schwer, doch gerade als er sie schließen wollte, hörte er ein Geräusch.
Auf der Stelle war er wieder hellwach. Er riss die Augen auf – und erschrak. Vor ihm, gerade noch von Nebelschwaden umwölkt, stand ein pechschwarzer Hirsch mit einem Fell wie schwerer Samt und einem ebenso schwarzen Geweih. Knisternde Glut loderte in seinem Schlund, doch seine Augen waren nachtblau, und darin entfachten sich Flammen wie goldene Sterne. Vor ihm stand Olvryon, der Herrscher der Ovo und Gebieter über die Ströme der Nacht und die Hügel des Zorns. Und langsam, kaum merklich, neigte Olvryon den Kopf und hauchte seinen Atem durch die Luft.
Er zog aus dem Nebel zu Nando herüber, ein Flüstern war es wie aus einer anderen Welt. Nando spürte ihn eiskalt an seinen Wangen, ein leises Klirren drang an sein Ohr. Überrascht hob er den Arm und ließ seine Tränen, die sich in Kristalle aus Glas und Nebel verwandelt hatten, in seine metallene Hand fallen. Olvryon sah ihn an, schweigend und wie erstarrt, und Nando erwiderte den Blick in diese Augen, die nichts waren als Nacht und Sterne. Der Nebel verwandelte sich, es wurde Nacht wie an der Oberwelt, und heller Tag mit Sonnenstrahlen, die über Nandos Haut huschten, er hörte das Donnern von Gewitterwolken, roch den Wind des Meeres und spürte die Frische eines Regenschauers auf seiner Haut. Und doch sah er nichts als die Dunkelheit in Olvryons Blick, dieselbe Schwärze, die er wie einen Abgrund in sich selbst trug, diese Finsternis aus Sehnsucht und Einsamkeit, und er begriff, dass er darin Olvryon verwandt war. Denn diese flirrende Kluft tief in ihrem Inneren, die sie unwiderstehlich anzog, nur um sich mit geschmeidiger Bewegung wieder zu entziehen, atmete dieselbe Finsternis. Kein Nephilim würde das je begreifen, sondern nur ein Wesen, das Nando in diesem Punkt vollkommen glich – ein Wesen wie Olvryon. Der Herrscher der Ovo wusste, was diese besondere Art der Einsamkeit bedeutete, und Nando wusste es auch. In diesem Moment, da Nando auf den Knien lag und Olvryon auf ihn herabsah, ohne dass einer von ihnen den Blick geneigt hätte, kannten sie einander durch und durch.
Lautlos zog Olvryon sich in den Nebel zurück, und als Nando sich umwandte, sah er die Lichter Bantoryns zu sich herüberflammen. Langsam ging er darauf zu, um dann noch einmal innezuhalten. Zum
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