Nephilim
aussah, als wäre sie aus seinem Auge geflossen. Noemi richtete sich auf, sie schloss die Augen, als wollte sie in Gedanken zu Silas sprechen. Dann hob sie die Fackel und legte sie wie ein Gesteck aus Rosen an das Fußende, ehe sie ihren Schleier wieder über ihr Gesicht zog, die Treppe hinabschritt und sich in einiger Entfernung zu dem Feuer umdrehte, das sich in weißen Flammen auf dem Podest erhob.
Die Ritter traten vor und salutierten, und einige hoben die Fäuste und gaben flammende Salutschüsse ab, die donnernd über dem Baldachin in tausend Funken zerbarsten. Ihr Widerhall schlug Nando ins Gesicht, wieder sah er Silas vor sich, wie er von der Lanze getroffen wurde, wie er zusammenbrach und wie seine Flügel unter ihm aussahen wie Lachen aus Blut. Er wich zurück, ohne den Blick von den rasch um sich greifenden Flammen abzuwenden. Wie unter einem Bannzauber fixierte er Silas’ Gesicht, und erst als das Feuer dessen Gestalt einhüllte, konnte er sich losreißen.
Er flog nicht, er rannte durch das Mohnfeld. Der Blütenstaub wirbelte durch die Luft und legte sich als samtener Schatten auf seine Haut. Die Salutschüsse eilten ihm nach, doch sie übertönten nicht Silas’ Stimme. Du bist ein Nephilim. Ein Nephilim. Genau wie ich. Nando stolperte mehrfach, bis er endlich den Nebel der Ovo erreichte. Er eilte darauf zu, er musste fort von der Stadt, fort von den Gesichtern der anderen, ihren Fragen, die auch die seinen waren, und Silas’ Stimme, die sanft und ohne jeden Zorn in ihm widerklang und ihm die Kehle zuschnürte, bis er kaum noch Luft bekam. Er hatte Silas nicht retten können, er war da gewesen und hatte ihm nicht geholfen. Silas hatte sein Leben für ihn gegeben, für ihn, den Teufelssohn, und er selbst hatte nichts tun können, als seinen Kopf zu halten, während er starb.
Dicht vor dem Nebel blieb er stehen. Zarte Kälte strömte von ihm aus, doch Nando nahm sie kaum wahr. Er fühlte die Flammen, hörte sich verbiegendes Metall, roch den Gestank von verbrennendem Fleisch und spürte die Schreie seiner Mutter in sich widerhallen, gepaart mit Silas’ Stimme, bis sie gemeinsam seinen Namen riefen, so liebevoll, als wäre er ein leibhaftiges Wunder und kein Halbmensch, der sie nicht hatte retten können. Er wünschte, dass er noch einmal mit ihnen sprechen könnte, einmal nur. Er würde sie um Vergebung bitten für all das, was sie in ihm gesehen hatten und was er nicht war.
Schmerzende Hitze trat in seine Wangen, er wusste, dass er schreien musste, auf der Stelle, sonst würde er auseinanderbrechen, doch als er den Mund öffnete, kam nichts als ein heiseres Krächzen aus seiner Kehle. Der Nebel vor ihm war undurchdringlich, er sog seinen Blick auf. Nando hob die Geige und zog den Bogen über die Saiten wie ein Messer, das über die zarte Haut eines Unterarms gleitet. Doch kaum dass der erste Ton dem Instrument entwich, strömte die erstickende Finsternis aus seinem Inneren, bäumte sich auf und floss durch seine Finger in die Geige, wo sie sich in Töne verwandelte. Nando hielt die Augen geschlossen. Er sah schwarze Rosenknospen, halb von Stein überzogen, die sich aus der Dunkelheit ins Licht schoben. Er sah seine Eltern, wie sie ihm zulächelten, wie sein Vater durch sein Haar strich und seine Mutter ihn in den Armen hielt, damals, als er noch klein gewesen und nachts von Albträumen erwacht war. Und er sah Silas, hörte seine ruhige, sanfte Stimme, die wie Gesang die Klänge der Geige begleitete, und ging noch einmal mit ihm durch die Gassen Bantoryns.
Nando tauchte ein in die Musik, die ihn als gewaltige Welle emporhob, er vernahm Yrphramars Lachen, als würden sie gerade in der Schwarzen Gasse sitzen, und er wusste, dass er nicht nur ein Requiem für Silas spielte, das ihn auf dem Weg begleiten sollte, auf dem er sich nun, da sein Körper zu Feuer und Asche geworden war, vielleicht befand. Er spielte auch für das Licht, das Silas in seinem Blick getragen hatte, für die Hoffnung, für die er gestorben war und die sein Gesicht so weich gemacht hatte und sein Lächeln so traurig. Er spielte für all das, was Silas gewesen war. Er fiel auf die Knie und weinte, doch es kümmerte ihn nicht. Nichts, nichts kümmerte ihn mehr als diese Musik. Und während er spielte, schien es ihm, als würde Silas tatsächlich da sein, als würde er ihm Dinge erzählen, für die es keine Worte gab. Die Musik brach sich ihren Weg, sie zeigte Nando Räume, in denen Silas ihn erwartete, zeigte Silas als jungen
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