Nephilim
ersten Mal, seit er in Bantoryn angekommen war, begriff er, dass er immer außen stehen würde, so wie Olvryon es tat, beobachtend aus den Schatten, im Zwielicht wartend, wie es für Heimatlose üblich war.
Kaya verhielt sich noch immer vollkommen still in der Geige, aber Nando wusste, dass sie in Gedanken bei ihm war, und er meinte, ihre Worte zu hören, leise und flüsternd: Ich bin die Begleiterin der Heimatlosen. Und von nun an begleite ich dich. Ein wärmendes Gefühl zog über Nandos Rücken, doch es währte nur kurz. Die Lichter Bantoryns glommen zu ihm herüber, und unwillkürlich musste er an Yrphramar denken und daran, wie dieser allein durch Rom gegangen war, die Geige auf seinem Rücken und den Blick zu den hellen Fenstern der Menschen erhoben, und er fühlte die Sehnsucht, von der Yrphramar oft gesprochen hatte, ohne sie genau zu benennen. Sie hatte in jedem Ton gelegen, den er seiner Geige entlockt hatte, und ein brennendes Nagen in Nandos Brust gepflanzt. Es war die Sehnsucht nach Heimat gewesen, nach Ankommen und Zufriedensein – eine Sehnsucht mit der Gewissheit, dass sie unstillbar war. Niemals, das wusste Nando jetzt, würde er ein Teil Bantoryns werden, wie Antonio oder Morpheus es waren, niemals würde er zu den Nephilim gehören oder zu den Menschen, die ihm so sehr fehlten, dass er nachts mit körperlichen Schmerzen erwachte. Er war ein Mensch, aber nicht nur – er war ein Nephilim und doch mehr als das. Er war der Teufelssohn, Gejagter und Jäger zugleich, gefürchtet, gehasst und verfolgt. Er würde in die trügerische Gelassenheit der Menschenwelt zurückkehren können, doch er würde niemals eine Heimat finden in ihr, denn er gehörte nicht dazu.
Er holte tief Atem, der Duft des Mohns strömte in seine Lunge, und er wusste, dass er diesen Moment niemals vergessen würde: den hilflosen und einsamen Augenblick, in dem die Gewissheit in ihm keimte, zwischen den Welten zu Hause zu sein – oder nirgends. Und weit hinten in seiner Erinnerung, halb gedämpft von seiner Furcht, ihr zuzuhören, flüsterte eine Stimme zu ihm, eine Stimme aus Asche und Wüstenglut. An meiner Seite wärest du niemals wieder … allein …
24
Avartos hockte in der Finsternis der Katakomben und rührte sich nicht. Jede Bewegung brachte die Luft zum Erzittern und wühlte die Stille auf, die ihn als fühlbares Wesen umdrängte und jeden seiner seltenen Herzschläge mit gierigem Griff in die finsteren Grabnischen zog. In dieser Dunkelheit ruhten die sterblichen Überreste von Tausenden von Menschen. Avartos sah ihre Leiber auferstehen und wieder zerfallen, je länger er in die Loculi starrte, und er konnte sie spüren: den Staub ihrer Knochen, der in seine Lunge drang, die Kühle zwischen den Mauern aus Marmor und Tuffstein, und die atemlose, gaffende Dunkelheit, aus der heraus ihn die Toten zu beobachten schienen, als würden sie etwas wissen, das ihm verborgen blieb.
Mit finsterer Miene streckte er sich, kam dabei gegen die Wand und verursachte ein scharrendes Geräusch, das ihn zusammenfahren ließ. Ärgerlich stieß er die Luft aus. Er hatte schon an anderen Orten ausgeharrt, doch nun, da er tief unter der Via Appia in den Totengängen der Menschen hockte, fiel es ihm schwer, die Unruhe in sich klein zu halten. Die Via Appia, die schon in der Antike den Beinamen Regina Viarum trug – die Königin der Straßen, da sie in früheren Zeiten eine der wichtigsten Handelsstraßen Italiens und des Römischen Reiches gewesen war. Unzählige historische Bauten und Grabmäler befanden sich noch immer am Rand dieser Straße, und nicht nur die menschliche Geschichte hatte dort ihre Spuren hinterlassen. Ein Wispern kroch durch den schmalen Gang, in dem Avartos sich niedergelassen hatte, und er schaute angestrengt durch die Dunkelheit, ohne mehr als Schatten und Schemen ausmachen zu können. Er widerstand nur mühsam dem Impuls, seine Fackel zu entzünden.
Kein Licht , hatte die Anweisung gelautet, die ihm die Königin übermittelt hatte. Keine Worte. Jene dulden beides nicht. Erneut sah Avartos das Lächeln in den Augen der Königin, als sie ihm den Auftrag erteilt hatte, dieses Glimmen aus Spott und Kälte, und er zog die Brauen zusammen. Wie lange hockte er nun schon auf diesem Vorsprung aus Stein, wie lange starrte er schon hilflos wie ein Mensch in die Dunkelheit, wie lange schon drängte er jeden Gedanken an jene zurück? Er war niemals einem von ihnen begegnet, kannte nur die Legenden, die über sie in den uralten
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