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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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Sterne aus Feuer und Eis hatten die Bewohner Bantoryns zum Zeichen der Trauer verhüllt, schwarze und weiße Schleier bedeckten die Höhlendecke und bewegten sich geisterhaft im Wind, während unten ein nicht enden wollender Trauerzug über die einzige breite Straße der Ebene schritt. Die Ritter der Garde bildeten ein Ehrenspalier, ihre Schwerter hatten sie schwarz gefärbt, und sie flankierten die Straße bis hinauf zu dem prunkvoll hergerichteten, mit Brennholz bestückten Podest, das auf einem der höchsten Hügel stand. Seine Pfeiler trugen einen golden schimmernden Baldachin, sodass es wirkte, als hätte der Schein der Sonne sich daraufgelegt. Weitere Ritter standen als Totenwache ringsherum, und über ihm grub sich die Höhlendecke wie ein riesiges Schneckenhaus tief ins Gestein. Seidene Kissen bedeckten das Podest, und auf ihnen lag Silas, bleich wie eine Figur aus Wachs.
    Er trug die schwarze Uniform der Garde, die silbernen Stiche schimmerten leicht. Sein Haar fiel seidig auf die Kissen, und es schien, als bräuchte er nur die Augen zu öffnen, um diese Zeremonie ad absurdum zu führen. Doch Nando spürte sie noch immer, die Kälte, die Silas das Leben geraubt und sich an seiner Stelle in seinem Körper eingenistet hatte, fühlte sie so deutlich, dass er immer wieder anfing zu zittern. Er sah zu, wie sich der Zug zu Füßen des Podestes spaltete und sich die Trauernden rings um den Hügel herum verteilten, sodass schon nach kurzer Zeit kaum ein Blick mehr möglich war auf die Grabsteine und silbernen Blumen. Silas war mehr gewesen als ein Offizier der Garde. Er war ein Sohn der Stadt, der für die Freiheit der Nephilim sein Leben gegeben hatte. Kein Bewohner Bantoryns wollte es versäumen, ihm die letzte Ehre zu erweisen.
    Der Wind wurde plötzlich stärker. Er fuhr Nando ins Gesicht und verstärkte die Kälte, die er empfand. Wie gern wäre er Silas in diesen Augenblicken näher gewesen, hätte mit den anderen Nephilim dicht bei dem Podest gestanden und zu ihm hinaufgesehen inmitten der Gemeinschaft der Stadt. Du bist ein Nephilim, hörte er Silas flüstern. Genau wie ich. Doch Silas hatte sich geirrt. Nandos Platz war nicht dort unten bei den anderen, und wenn er in ihre Gesichter schaute, las er darin seine eigenen Gedanken – Gedanken, vor denen er fliehen musste, um nicht an ihnen zu zerbrechen.
    Die Annäherung, die er in den vergangenen Tagen gespürt hatte, war eine Illusion gewesen, ein Tagtraum, aus dem er früher oder später hatte erwachen müssen. Silas’ Tod hatte alle Beteiligten aufgeweckt und jede scheinbare Nähe zerrissen wie ein zartes Blütenblatt im Sturm. Denn jeder wusste, warum Silas gestorben war. Jeder wusste, dass die Engel den Teufelssohn gesucht hatten, jenen Nephilim, dessen Vorgänger einst ihre Stadt niedergebrannt hatte und aufgrund dessen schon so viele Bewohner Bantoryns verfolgt und ermordet worden waren. Mit geballter Kraft strömten die Engel durch die Unterwelt, schickten ihre Chimären durch die Gänge und vermehrten die Furcht der Nephilim, entdeckt zu werden – jene Furcht, die den Bewohnern der Stadt ebenso vertraut war wie den Menschen der Geruch von Sonne und Wind. Ja, jeder wusste, dass die Engel nach Nando gesucht hatten, dass Silas seinetwegen gestorben war, und auch wenn in der kurzen Zeit seit seinem Tod niemand außer Antonio, Kaya und Morpheus auch nur ein Wort zu Nando gesprochen hatte, standen doch Fragen in jedem Blick, der Nando begegnete, Fragen, die er sich selbst stellte und die wie ein Echo klangen auf das Gefühl, das sich damals vor dem brennenden Autowrack seiner Eltern in ihm gebildet hatte wie ein Geschwür: Warum hatte es ihn nicht getroffen? Warum hatte er überlebt? Warum hatte Silas sterben müssen, der treue Freund, der Bruder, der Offizier und Ritter Bantoryns, den die Stadt liebte und der für sein Ideal der Freiheit aller Nephilim jede Furcht in sich zurückgestellt hatte? Seit dem Moment, da er Silas’ letzten Atemzug gehört und die Kälte des Todes auf seiner Haut gespürt hatte, stellte Nando sich diese Fragen. Er sah sie gespiegelt in den Augen der Nephilim, sie bestürmten ihn von allen Seiten, und doch wusste er keine Antwort darauf – wie damals.
    In den Stunden nach Silas’ Tod hatte er aus Bantoryn fliehen wollen, um weitere Übergriffe der Engel auf die Nephilim zu verhindern. Sein Tod würde die Jagd der Engel nicht unterbrechen, das wusste er, denn es gab andere Teufelskinder auf der Welt, die eines Tages erweckt

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