Nephilim
werden könnten. Doch vielleicht würde er zumindest diese Nephilim retten können – wenn er sich den Engeln auslieferte. Dieser Gedanke hatte sich mit Widerhaken in seinem Hirn festgekrallt, und er hatte bereits seine Sachen gepackt, als er ans Fenster getreten war, um ein letztes Mal hinauszuschauen. Da war ihm Silas in den Sinn gekommen, wie er lachend mit Noemi über die Schwarze Brücke gegangen war. Silas hatte sein Leben für ihn gegeben. Durch seinen Tod hatte er Nando gerettet, und dieser durfte sich den Engeln nicht opfern und dieses Geschenk mit Füßen treten.
Die letzten Trauergäste hatten ihre Plätze zwischen den Gräbern eingenommen, und kaum dass sich die Stille kühl und lähmend auf die Köpfe senkte, traten neun der Totenwachen vor und hoben silberne Fanfaren an die Lippen. Ihr gläserner Klang durchzog die Luft und begrüßte den Chor aus jungen Nephilim, der in diesem Augenblick die Straße hinaufkam. Sie waren kaum älter als zehn oder elf Jahre, Kinder, die in Bantoryn geboren und aufgewachsen waren, und als sie zu singen begannen, schien es Nando, als würden die Stimmen ihrer Vorfahren in jedem Ton mitklingen. Sie sangen in der Alten Sprache, die vor dem Bruch zwischen Engeln und Dämonen vor langer Zeit die Völker der Schattenwelt geeint hatte. Sie wurde Lhar Helvr’ion genannt – die Sprache aller. Nando kannte einzelne Zauberformeln in dieser Sprache und hatte sie Antonio einige Male sprechen hören. Es hatte seltsam geklungen, die Worte waren weich und verschlungen über seine Lippen gekommen und hatten das Alter des Engels erahnen lassen wie ein kühler Windhauch, der die träge, staubige Luft einer bislang verschlossenen Gruft aufwühlt und ans Licht trägt.
Stolz lag in den Stimmen der jungen Nephilim, und obgleich Nando nicht jedes Wort verstand, wusste er doch, dass sie von der Geschichte ihres Volkes sangen, von dem Leben in ständiger Furcht vor Entdeckung, von Bantoryn, ihrer Stadt jenseits des Lichts, von ihren Kämpfen und Niederlagen und von der Sehnsucht nach Freiheit, die unerschütterlich in jedem von ihnen brannte. Die Gesänge vermischten sich mit dem Wind, der die Mohnblüten durchfuhr, und die Klänge durchdrangen Nando und trübten seinen Blick, als nun, da der Chor das Podest erreichte und sich an seiner Seite aufstellte, eine Gestalt am Ende der Straße erschien.
Sie war klein und ganz in Schwarz gekleidet. Ein Schleier verhüllte ihr Gesicht, doch Nando wusste, dass es Noemi war, die ohne Begleitung den Weg zum Grab ihres Bruders antrat. Er hätte es auch gewusst, wenn er nicht ihr langes Haar gesehen hätte, das wie ein Stück Nachthimmel bis weit auf ihren Rücken hinabfiel, oder ihre schmale Hand, mit der sie eine weiß flammende Fackel trug. Er erkannte sie an ihrer Haltung, an der Art, wie sie die Straße hinabschritt, den Kopf hocherhoben wie eine Königin, den Blick unverwandt auf Silas gerichtet, und an ihren Schritten, die wie schwache Morsezeichen auf dem Angesicht der Welt verkündeten, dass niemand sie brechen würde – selbst der Tod nicht. Aber Nando wusste, was es bedeutete, seine Familie zu Grabe zu tragen, und kurz meinte er, Noemi schwanken zu sehen, als sie die Treppe zum Podest hinaufgestiegen war und dicht bei Silas innehielt. Gleich darauf stand sie regungslos, der Chor der Nephilim beendete seinen Gesang. Und dann kam sie, die Stille.
Nando hatte schon einmal Bekanntschaft mit ihr geschlossen, war schon einmal beinahe erdrückt worden von ihrer Last. Noch immer hörte er das Knirschen der Seile, als die Särge seiner Eltern in die regennasse Erde hinabgelassen worden waren, roch noch immer den Wind, der ihn wispernd umschlichen hatte wie ein boshaftes Tier, und er wusste, dass Noemi in diesem Augenblick in ihre eigene Finsternis stürzte, eine Finsternis, die sie niemals wieder vollständig verlassen würde. In diesem Moment war Noemi vollkommen allein und doch schien es Nando, als würde er an ihrer Seite stehen, mehr noch: als wäre er es, der seinen Bruder ein letztes Mal ansah, sein bleiches Gesicht, sein schimmerndes Haar und das Lächeln auf seinen Lippen, das seltsam fremd erschien, weil es einst einem Lebenden gehört hatte und nun das Lächeln eines Toten war.
Langsam hob Noemi ihren Schleier. Ihr Gesicht war ebenso bleich wie das ihres Bruders. Sie weinte nicht, doch ihre Augen waren schwarz geworden, und als sie sich niederbeugte und Silas auf die Stirn küsste, fiel eine einzelne Träne auf seine Wange, sodass es
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