Nephilim
Zauber.
Die Stille, die darauf folgte, war vollkommen. Die Nephilim waren im ganzen Saal verstreut, Noemi lag halb aufgerichtet auf dem Rücken – und vor ihren Augen, ein drohender Wirbel, der ihr den Kopf vom Hals getrennt hätte, flammte Nandos Zauber und drehte sich lautlos im Kreis. Nando kam auf die Beine, langsam und schwankend. Er hatte keine höhere Magie gewirkt, noch nicht. Aber er war kurz davor gewesen, ganz kurz davor, dem Teufel und seinen Verführungen zu verfallen und die Flamme zu ergreifen – jenes Licht, in dem er selbst jede Kontrolle verloren hätte.
Noemi rührte sich nicht. Nur ihre Augen wanderten zu Nando herüber. Er sah deutlich den Schrecken in ihrem Gesicht und die Furcht, noch immer halb verdeckt von der Maske des Zorns, die sie selbst in diesem Moment auf ihre Züge zwang. Er holte aus und schlug den flammenden Wirbel gegen die Wand. Funkensprühend zerbrach er, einige Novizen sprangen erschrocken auf die Beine.
»War es das, was ihr wolltet?«, rief Nando außer sich. »Ich hätte euch alle töten können!« Er trat einen Schritt auf Noemi zu, die schreckensstarr zu ihm aufsah. »Ich weiß, was es bedeutet, wenn man die Wesen verliert, die man am meisten liebt auf der Welt, mehr als sich selbst! Ich weiß, wie es ist, mitten in der Nacht aufzuwachen und sich zu fragen, warum man noch atmet, warum man diesen Schmerz ertragen kann, warum man nicht tot ist an ihrer Stelle! Ich weiß, was das heißt, und ich wünschte, ich hätte Silas retten können, doch ich konnte es nicht! Mit dieser Schuld muss ich leben, nicht du, und ich schlafe ein mit dem Gefühl des Todes, der nach mir greifen wollte und dem Silas sich in den Weg stellte – für mich! Um mich zu retten, mich, der ihm nicht helfen konnte!«
Er spürte die Blicke der anderen, doch sie drangen zu ihm wie durch eine dicke Wand, die niemand wahrnahm außer ihm selbst. »Es hätte jeden von euch treffen können, ist euch das eigentlich klar? Jeder von euch könnte jetzt an meiner Stelle sein! Ich habe mir mein Schicksal nicht ausgesucht! Aber ihr wisst nicht, wie das ist, seine Stimme in eurem Kopf zu haben!«
Und als würde er noch immer in den Klauen der Ohnmacht liegen, brandete in diesem Augenblick das Lachen des Teufels in ihm auf. Es schlug gegen die Mauer, die ihn von den anderen trennte, prallte dagegen wie seine Worte zuvor und raste tausendfach so stark zu ihm zurück. Nando griff sich an die Brust, kurz schien es ihm, als würde er selbst lachen, doch er hatte kaum noch genug Luft in der Lunge, um bei Bewusstsein zu bleiben. Er sah die Mauer, durch die die anderen ihn anstarrten, sah auch Noemi, wie sie langsam auf die Beine kam und etwas sagte, doch er wollte ihre Worte nicht hören. Atemlos fuhr er herum und rannte aus dem Saal, mit der Stimme des Teufels in seinem Kopf.
26
Die Kette mit dem silbernen Drudenfuß hing schwer um Nandos Hals. Das Amulett hinderte ihn daran, seine magischen Kräfte zu nutzen, und als er sich auf seine Schaufel stützte und innehielt, spürte er deutlich, wie sehr sie ihm fehlten. Schwer atmend wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Er befand sich auf einem weitläufigen, einsam gelegenen Platz am äußeren Stadtrand. In früheren Zeiten hatten die Bewohner Bantoryns Steckrüben und Kartoffeln auf ihm angebaut, doch er lag bereits seit einigen Jahren brach und die Erde war so verkrustet, dass sie sich unter Nandos Füßen anfühlte wie harter Stein. Er war damit beschäftigt, den Boden aufzulockern und sechseckige Steinplatten darauf zu verlegen, sodass künftig Trainingseinheiten der Akademie auf diesem Platz stattfinden konnten. Es stand ihm frei, das Ganze mit einem Mosaik aus rotem Marmor zu verzieren, dessen Form und Gestalt er frei wählen konnte, doch bislang hatte er allein mehrere Stunden damit verbracht, die Erde für die Platten vorzubereiten. Seit seiner Ankunft in Bantoryn hatte er zahlreiche anstrengende und schmerzhafte Trainingseinheiten absolvieren müssen, doch die Arbeit auf diesem Platz brachte ihn an den Rand seiner Kräfte. Fast war es, als triebe die Erde ihm die Gedanken durch die Glieder, die er verdrängen wollte, und verlangsamte so jede seiner Bewegungen, als befände er sich unter Wasser.
Er verrichtete diese Arbeit allein, wie es bei Strafarbeiten üblich war. Nur Kaya hatte ihn mitsamt der Geige begleiten dürfen, doch sie hockte schweigend auf dem Instrument, lehnte an einer der Steinplatten und warf Nando immer wieder kopfschüttelnd Blicke zu.
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