Nephilim
Vater für ihn geworden. Entgegen Nandos Erwartungen war er nicht wütend geworden, er hatte noch nicht einmal enttäuscht gewirkt. Nein, er schaute Nando nur weiter mit diesem ruhigen Blick voller Geduld an. Beim Verlassen des Zimmers hatte Nandos Brust geschmerzt, so sehr hatte er sich bemühen müssen, nicht zu schreien. Und nun lag der Antrag auf Antonios Schreibtisch, vermutlich hatte er ihn bereits gelesen und dachte darüber nach, wie er sich so in ihm hatte täuschen können.
Nando umfasste den Griff seiner Schaufel und trug weiter Erde ab, deren dunkle Sandwolken ihm ins Gesicht fuhren und seine Wimpern verklebten wie Mehlstaub. Er erinnerte sich noch gut an seine ersten Tage in Bantoryn, ebenso wie an sein großes Ziel: die Prüfung zur höheren Magie zu bestehen. Er wollte Antonio zeigen, dass er sich nicht irrte in seinem Glauben an den Teufelssohn, den er in die Stadt geholt hatte, er wollte ihm beweisen, dass er die Prüfung bestehen, dass er Luzifer widerstehen konnte, dass Antonio recht hatte mit seinem Vertrauen – aber er konnte es nicht, hatte es von Anfang an nicht gekonnt, und nun, da Silas tot war, nun, da die Stadt der Nephilim ihre Kälte strafend auf Nandos Stirn legte und er dem Teufel näher gekommen war als jemals zuvor, schien ihm sein Ziel so unerreichbar wie noch nie.
»Würdest du so langsam kämpfen, wie du gräbst, könnte selbst eine an eine Geige gefesselte Dschinniya dich windelweich schlagen!«
Nando richtete sich auf und schaute zu Kaya hinüber, doch sie war es nicht gewesen, die diese Worte über den Platz gerufen hatte. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er an ihr vorbei und hob die Brauen. Über die schmale Gasse, die aus den belebteren Vierteln der Stadt hinab zum Platz führte, kam eine hochaufgerichtete Gestalt mit pechschwarzer Haut und hellblauen Augen auf ihn zu. Es war Drengur. Er trug seine lederne Uniform, in stiller Gelassenheit kam er den Weg entlang, und Althos schritt neben ihm her, den Blick wie beiläufig auf Nando gerichtet. Instinktiv umfasste dieser die Schaufel fester und nahm Haltung an.
»Es fällt dir schon schwer genug, die Schaufel nicht loszulassen«, sagte Drengur mit einem Lächeln, das nicht ganz den kühlen Spott vermissen ließ, der ihm sonst anhaftete. Doch seine Stimme klang ruhig, beinahe freundlich. »Am besten stehst du bequem.«
Er ging an Nando vorbei, der ein wenig unschlüssig die Schaufel in die Erde bohrte und einen Blick mit Kaya wechselte, während Althos vollkommen lautlos auf einen Plattenstapel sprang und sich majestätisch darauf niederließ. Die Dschinniya hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sie kannte Drengur seit langer Zeit, und obgleich sie niemals ein Wort über ihn verlor (Dschinns sprechen nicht mehr als nötig über ihre Vergangenheit, sie sprechen auch nicht über die Wesen, die sie kennen, wenn es nicht wichtig ist – Dschinns sind Wesen von Ehre, anders als Engel, Dämonen, Nephilim oder Menschen , pflegte sie zu sagen), wusste Nando, dass sie seine arrogante Art nicht sonderlich schätzte. Und nun hatte Drengur mit seiner abfälligen Bemerkung über kämpfende Geigendschinniyas nicht gerade zur Völkerverständigung beigetragen. Doch das schien ihn nicht zu interessieren. Er streckte sich und breitete die Arme aus, als hätte er lange in einem zu kleinen Käfig gesessen, während er über die Weite des Platzes blickte und die Luft einsog. Auch hier verteilte der Mohn seinen Blütenstaub, der samten auf der steinharten Erde lag. Nando zog die Brauen zusammen. Für gewöhnlich legte Drengur keinen Wert darauf, außerhalb des Unterrichts mit ihm zu sprechen, und es gab angenehmere Orte in Bantoryn als diesen verlassenen Platz.
»In früheren Tagen bin ich häufig hier gewesen«, sagte Drengur, als hätte er Nandos Gedanken gehört. »Wir trainierten hier Luftübungen und Kämpfe auf unebenem Terrain, aber wir durften keine kräftigen Zauber wirken. Fühlst du die Wärme der Erde? Unter ihr liegen die Leitungen des Laskantin, die zu den Silos führen. Hier ist die Energie hochkonzentriert. Ich habe als junger Dämon einmal eine Ladung abbekommen, als ich mich unvorsichtigerweise zu nahe an eine Speicherstation in Or’lok heranwagte, ich kann dir sagen – ich bin nur knapp dem Tod entronnen.«
Er hielt inne, dann sog er die Luft ein und zog etwas aus seiner Tasche. Nando erschrak, als er seinen Brief erkannte, den er Antonio am Morgen unter der Tür seines Arbeitszimmers hindurchgeschoben hatte. Den
Weitere Kostenlose Bücher