Nephilim
Sie zeigte keinerlei Verständnis dafür, dass er Noemi und die anderen nicht verraten hatte, als Antonio ihn wegen der Vorkommnisse im Speisesaal zur Rede gestellt hatte. Es wäre leicht gewesen, seinem Mentor zu berichten, dass er an den Ereignissen keine Schuld trug, dass er sich lediglich gewehrt hatte und nicht gegen die Regeln der Akademie verstoßen wollte. Zu Beginn hatte Nando sich davor gefürchtet, dem Engel unter die Augen zu treten. Er hatte den Speisesaal in Schutt und Asche gelegt, er hatte ein Feuer entfacht, das sich leicht hätte ausbreiten können, wäre er nicht vor der höchsten Magie zurückgeschreckt. Ohne jeden Zweifel hatte Antonio an den einstigen Teufelssohn gedacht, an die Feuersbrunst Bantoryns, als er von den Vorkommnissen erfahren hatte, da war Nando sich sicher, und es war alles andere als einfach gewesen, Antonio gegenüberzutreten. Doch im Blick des Engels hatte kein Zorn gelegen, kein Misstrauen, keine Furcht. Ruhig hatte er Nando angesehen, und diese Gelassenheit und tiefe Unerschütterlichkeit hatte diesem einen Schauer über den Rücken geschickt. Antonio kannte ihn gut, besser als er sich selbst, so schien es ihm manchmal, und es hatte nicht mehr gebraucht als einen flüchtigen Blickwechsel, um eines ganz klarzumachen: Antonio wusste alles. Er wusste, dass Noemi und ihre Freunde Nando angegriffen hatten, wusste auch, dass er dabei beinahe dem Teufel verfallen wäre, und vermutlich wusste er sogar etwas von dem Entschluss, den Nando in dem Moment getroffen hatte, da er seinem Mentor gegenübergetreten war und dieser ihn gefragt hatte, was geschehen sei. Nando hatte ihn nicht angelogen, aber er erzählte auch nicht die ganze Wahrheit. Hätte er das getan, wäre es zu einer Sitzung des Senats gekommen, die Verantwortlichen hätten sich rechtfertigen müssen und wären vermutlich zu heftigen Strafen verurteilt worden. Ohne Frage hätten sie das verdient, das war Nando klar, und dennoch … Noemis Blick stand ihm vor Augen, ihre hilflose Wut und die Ohnmacht, mit der sie ihn angesehen hatte, als wäre er nichts als eine durchsichtige Wand, hinter der ihre eigenen Dämonen lauerten. Er dachte an ihre Verzweiflung und fühlte wieder seine eigene Dunkelheit, die ihn seit dem Tod seiner Eltern erfüllte und immer wieder wie ein gefräßiges Untier aufbegehrte und sich Gehör verschaffte. Dieselbe Finsternis lag nun in Noemi, Nando hatte ihre grausame Kälte gefühlt. Er wusste, dass Noemi ihn für sein Handeln auslachen würde, aber er konnte sie nicht verraten. Und so hatte Antonio langsam genickt und war zu seinem Schreibtisch zurückgekehrt, um Nando wie den anderen eine Strafarbeit zuzuweisen. Mit geneigtem Kopf war Nando aus dem Zimmer geschlichen und hatte einen verstohlenen Blick zu Antonio zurückgeworfen. Sein Mentor hatte sich auf dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch niedergelassen und die Hände vor dem Mund gefaltet, und Nando hatte nichts gesehen als ein kaum merkliches Flackern in seinen Augen wie das plötzliche Flügelschlagen eines Raben, dessen heiserer Schrei einem Lachen glich.
Nando war dankbar gewesen für diesen Funken, und doch hatte ihn eine seltsame Scham überkommen angesichts des Vertrauens und der Zuneigung, die Antonio ihm entgegenbrachte, obgleich ihm dies aufgrund seiner Erfahrungen mit dem einstigen Teufelssohn nicht leichtfallen konnte. Doch Nando selbst hatte dieses Vertrauen in sich nicht. In der vergangenen Nacht hatte er einen Brief an seinen Mentor verfasst, einen Antrag auf Freistellung vom Unterricht für die nächste Zeit. Noch immer spürte er die Flammen der höchsten Magie an seinen Fingerspitzen und sah sich am Boden liegen zu Füßen des Teufels. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte dessen Angebot angenommen. Er dachte an die Bilder vom Feuer Bantoryns, die er einst in Antonios Augen gesehen hatte, hörte die Schreie der sterbenden Nephilim und spürte selbst den Schmerz Noemis und Salados’, die nur zwei Beispiele waren für all das Leid, das der einstige Teufelssohn über die Stadt gebracht hatte. Und nun war Nando selbst so kurz davor gewesen, der Stimme Luzifers zu folgen. Allein der Gedanke daran machte es ihm unmöglich, mit dem Training fortzufahren – ein Umstand, der ihm wie ein Faustschlag in Antonios Richtung erschien. Sein Mentor hatte ihn gefunden, ihm das Leben gerettet, ihn nach Bantoryn gebracht, er hörte ihm zu, erteilte ihm Ratschläge, wenn es nötig war, und war innerhalb so kurzer Zeit fast so etwas wie ein
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