Nephilim
eine Melodie aus lang vergangener Zeit, ein Märchen von trauriger Schönheit, das man nur in der Stille und Dunkelheit der Nacht oder mit geschlossenen Augen auf einem einsamen Platz begreifen konnte. Drengur führte den Bogen mit zärtlicher Geste über die Saiten, er spielte, als hätte er nie ein Schwert in den Händen gehalten, nie jemanden zum Kampf gefordert, verwundet oder getötet. Und doch war Drengur ein Krieger, noch und für immer, er hatte den Tod bedeutet für zahlreiche Wesen und trug noch immer eine Grausamkeit in seinem Blick, die Nando schaudern ließ. Seine Musik war wie ein Tanz der Extreme, immer leidenschaftlicher spielte er auf, und schließlich riss er den Bogen kreischend über die Saiten und brach sein Spiel ab. Er war außer Atem, als er die Geige beiseitelegte. Vorsichtig steckte Kaya den Kopf aus dem Instrument, die Augen tellergroß und staunend auf Drengur gerichtet, die Haare zerzaust, als hätte man sie im Inneren der Geige hin und her geschüttelt.
»Yrphramar war immer besser als ich«, sagte Drengur leise, und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, das sein Gesicht ungewohnt weich erschienen ließ. »In ihm lagen Licht und Schatten in ewigem Kampf, doch keine Seite überwog dauerhaft. Bei mir ist dies anders.« Er holte tief Atem. »Mein Name ist Drengur Aphion Herkron, einst Hoher General der Spiegelstadt, Erbe des Schwarzen Feuers und der Glut des Ophaistos, Kind des Pan. Ich bin ein Dämon, Nando, ein Dämon des Neunten Kreises, und ein einstiger Gefährte des Höchsten Höllenfürsten. Ich diente in seiner Ersten Legion und war sein engster Vertrauter, bis … « Er stockte.
Später hätte Nando nicht mehr sagen können, aus welchem Grund er auf einmal atemlos gewesen war, warum er sich aufsetzte und Drengurs Blick suchte, aber er erinnerte sich genau an die Bilder, die nun in den Augen seines Lehrers auftauchten. Zuerst sah er nur die Flammen, doch dann erkannte er Gebäude, die wie Schattenrisse zwischen ihnen auftauchten, er hörte das Schnauben und Wiehern panischer Pferde und roch den Duft von verbrennendem Holz. Dann hörte er die Schreie, es waren menschliche Stimmen, die gleich darauf von einer Reihe starker Magieschübe zerfetzt wurden. Nando nahm den metallischen Geruch von Blut wahr und erkannte schattenhafte Gestalten zwischen Rauch und Feuer, Dämonen, die durch die Luft rasten, fliehende Menschen packten und in die Flammen ihrer brennenden Häuser warfen. Mit lauten Stimmen trieben sie die Kinder der Menschen zusammen, erschlugen jeden, der sie davon abhalten wollte, und umschlossen den Platz mit den Kindern mit einem Bannkreis aus Feuer. Nando konnte keines ihrer Gesichter erkennen, er sah nur die Flammen, die wie Teufelsfratzen aufwallten und unter den grausamen Stimmen der Dämonen die Klauen nach den Kindern ausstreckten. Er hörte die Kinder schreien, vor Schmerz, vor Angst im Angesicht des Todes, der nun nach ihnen griff, und er starrte in die Flammen in Drengurs Augen und fühlte die Schreie dieser Kinder in seinem Inneren widerhallen wie verlorene Hilferufe aus der Finsternis. Da senkte Drengur den Blick, abrupt brachen die Schreie in sich zusammen, doch Nando schien es, als würden sie dennoch in ihm weiterklingen, als wären sie durch den einen flüchtigen Blick ein Teil von ihm geworden, den er niemals vergessen durfte.
»Auf dem Höhepunkt des Krieges zwischen Dämonen und Engeln wurden die Menschen zwischen den Fronten zerrieben«, sagte Drengur heiser, als wäre er ein sehr alter Mann. Nando betrachtete ihn schweigend, und auf einmal sah er tatsächlich das Alter hinter Drengurs junger Haut, bemerkte die Kälte eines langen Lebens in seinen Augen und meinte, eine tiefe Müdigkeit in jeder seiner Bewegungen zu erkennen wie bei einem König, dessen Finger von Gicht erstarrt waren und das Schwert nicht mehr halten konnten. »Der Fürst gierte danach, endgültig die Macht an sich zu bringen, und er war erfüllt von Zorn und Hass, der sich gegen jene richtete, die er für seinen Sturz verantwortlich machte. Lange schon hatte er hin und wieder Truppen in menschliche Dörfer geschickt, um Einzelne auf seine Seite zu bringen, um sie zu verführen oder zur Abschreckung zu töten. Oft war ich dabei, und wie alle anderen Dämonen tanzte ich mit den Flammen. Ich gab mich allem hin, ich lebte den Rausch, und ich glaubte, frei zu sein – bis zu jener Nacht, die ich dir gerade zeigte. Wir trieben die Kinder zusammen wie Vieh, doch als ich hörte, wie sie
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