Nephilim
Ruhe breitete sich über seine Stirn wie ein gebrochener Flügel.
»Ich weiß, wovon ich spreche, Nando. Es gibt nicht viele Dämonen, die in Freiheit leben und sich von ihrem einstigen Herrn losgesagt haben, und noch weniger, die ihm so nah gekommen sind wie ich. Die meisten, die ihm einmal leibhaftig gegenüberstanden, haben seinen Weg niemals mehr verlassen. Er versteht es, seine Jünger an sich zu binden, denn er weiß, wo er sie packen muss. Aus deiner Einsamkeit kannst du große Stärke gewinnen, aber du darfst nicht vergessen, dass auch der Teufel weiß, was Einsamkeit bedeutet – und er weiß, dass er dir im Wesen verwandt ist. Er kennt deine Schwächen, er weiß, wie hilflos und schwach du dich oft fühlst. Und wenn er dir verspricht, dir all das zu nehmen, lügt er nicht, denn das vermag er – doch sein Preis dafür ist hoch. Das darfst du niemals vergessen.« Nando holte Atem, doch noch ehe er etwas sagen konnte, schüttelte Drengur den Kopf. »Du bist ein Seiltänzer zwischen Licht und Schatten. Es ist deine Aufgabe, die Balance zu halten, wie du es im Spiel auf der Geige bereits meisterlich beherrschst – und nicht nur dort. Im Kampf gegen Noemi hast du bewiesen, dass du fähig bist, Luzifer selbst in scheinbar aussichtslosen Situationen zu widerstehen. Du warst stark genug, ihn zurückzuweisen, obgleich er sich dir ganz gewiss als der einzige Ausweg präsentierte, und du wirst auch stark genug sein, deine Einsamkeit zu tragen. Du fürchtest dich zu Recht: Jederzeit kannst du wieder in eine Situation wie diese geraten. Doch mit jeder Entscheidung, die du gegen den Teufel triffst, wirst du stärker werden und seine Macht über dich schwächen. Das ist keine Kleinigkeit, Nando. Du musst den Weg eines Kriegers der Schatten gehen, um siegen zu können. Versagst du, wirst du in die Finsternis stürzen. So einfach ist das.«
Drengur neigte den Kopf, fast wie bei einer Verbeugung. Mühelos riss er den Schutzwall um Nandos Gedanken nieder, doch dieser wehrte sich nicht dagegen. Vor ihm saß ein Geschöpf der Finsternis, das sich für das Licht entschieden hatte und dafür ein Leben in der Dämmerung in Kauf nahm. Nacht für Nacht trat dieser Dämon sich selbst entgegen, Tag für Tag entschied er diesen Kampf für sich und seinen Willen.
Da öffnete sich ein winziger Spalt in der Mauer vor Drengurs Gedanken, und Nando konnte einen Blick hineinwerfen. Niemals, das stand außer Zweifel, hatte der Dämon einem anderen Wesen außer Luzifer, seinem einstigen Herrn, diese Ehre erwiesen. Drengur misstraute Nando, wie er sich selbst misstraute, und doch glaubte er an ihn mit einer Kraft, die Nando den Atem stocken ließ. Du hast dich dem Fürsten der Hölle widersetzt , hörte er Drengurs Stimme in seinem Kopf. Und daher ist eines ohne Zweifel sicher: Du bist stärker, als du denkst. Es wird Zeit, dass du das begreifst.
Mit diesen Worten errichtete er die Mauer um seine Gedanken neu. Das geschah so schnell, dass Nando zurückgeworfen wurde wie von einem unsichtbaren Schlag getroffen. Atemlos rappelte er sich auf. Althos war von den Platten heruntergesprungen, regungslos saß er da und schaute Nando aus seinen rätselhaften Augen an. Drengur trat auf Nando zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. Ein schwaches, kaum merkliches Lächeln trat auf seine Lippen, während er einen Zauber sprach. Dann nickte er, als hätte er soeben ein Versprechen von Nando erhalten, hob die Hand und schnippte mit dem Finger. Gleich darauf ging eine Erschütterung durch den Boden. Ein heftiges Beben riss die Erde auf, die Krusten wurden gesprengt, und als würden titanische Riesen den Platz hin und her schütteln, begradigte sich das Feld. Es dröhnte ohrenbetäubend, wie von Geisterhand erhoben sich die Steinplatten in die Luft. Nando griff nach der Geige, warf sich zu Boden und zog den Kopf ein, um nicht von einem der Steine getroffen zu werden. Um sich herum hörte er donnerndes Ächzen, als die Steine sich in den Boden senkten. Augenblicke später war es still.
Nando kam auf die Beine. Fassungslos ließ er seinen Blick über den gepflasterten Platz gleiten. Sorgfältig reihte sich Stein an Stein, und in der Mitte prangte das rote Mosaik. Es war ein Drache, der den Blick ruhig auf den Betrachter gerichtet hatte, und in seiner linken Klaue hielt er einen zarten, fast zerbrechlichen Gegenstand – es war die Geige Yrphramars.
Ein Lachen kam über Nandos Lippen, zart wie ein Schmetterlingsflügel, und es sprengte den ehernen Reif
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