Nephilim
um seinen Brustkorb, der ihm das Atmen schwer gemacht hatte. Er wandte sich um, doch Drengur war verschwunden.
Ich bin ein Dämon , hörte er die Stimme seines Lehrers in seinem Kopf. Szenen der Rührung und Sentimentalitäten gehören nicht in mein Metier. Vergiss das nicht.
Nando kniff die Augen zusammen, er erkannte Drengur mit seinem Panther auf der Gasse hinauf in die oberen Viertel der Stadt – und er konnte hören, dass sein Lehrer lächelte.
27
Zwei Tage nachdem die Schleier von den Sternen aus Feuer und Eis gelöst worden und lautlos auf die Dächer Bantoryns herabgeschwebt waren, kehrte das Leben in die Akademie zurück. Es war ein anderes Leben als zuvor. Nando spürte die Veränderung überall, in den Blicken der Novizen, wenn sie an Silas’ Porträt vorübergingen, in dem Raunen, das die Gruppen der Nephilim überflog, wenn von den Rittern Bantoryns gesprochen wurde, oder in dem Wispern, das wie ein lebendiges Wesen durch die Straßen zog, fühlbar und gleichzeitig kaum wahrzunehmen, ein Hauch nur zwischen Ahnen und Hoffen und doch deutlich genug, um den Schauer auf der Haut zu spüren, wenn man für einen Moment innehielt und darauf lauschte. Nando hörte ihn oft, diesen Ton, der ihn an die Stille einsamer Friedhöfe erinnerte, an das atemlose Warten der verlassenen Plätze Roms auf die Rückkehr des Lebens am Morgen und an die reglose, kühle Luft in alten Klöstern und Kathedralen, die von Vergangenem erzählte, ohne auch nur ein Wort dafür zu gebrauchen, und den, der ihren Duft wahrnahm, für immer verzauberte mit dem Geruch uralter Gesteine. Mit der Zeit würde es schwerer werden, diesen Laut zu hören, aber er würde immer da sein, bereit, den Lauschenden an jenen Nephilim zu erinnern, der sein Leben für die Freiheit Bantoryns gegeben hatte.
Doch Nando spürte die Veränderung auch in sich selbst. Seit dem Gespräch mit Drengur trug er eine Klarheit in sich, die er zuvor nicht gekannt hatte, eine Ruhe, die ihm half, die kalten Blicke der anderen Novizen zu ertragen und erhobenen Hauptes an ihnen vorüberzugehen. Silas’ Bild stand ihm vor Augen, und er hörte Drengurs Worte in sich widerhallen, wenn er zu zweifeln begann. Er konnte nicht davor fliehen, der zu werden, der er war. Aber du kannst kämpfen für das, was du sein willst. Drengur hatte das getan, er hatte sich vom Weg des Teufels abgewandt. Antonio tat es in jedem Augenblick, in dem er sich gegen sein eigenes Volk stellte und ein Leben in den Schatten einer Existenz im Licht vorzog. Und Silas hatte so gehandelt, indem er für die Kraft eines Gedankens sein Leben gegeben hatte. Nando hatte sich entschieden, diesen Weg ebenfalls zu gehen – den Weg der Entschlossenheit, nicht den Weg der Furcht.
So kam es, dass er am Abend des zweiten Tages nach dem Fall der Schleier mit Antonio und zahlreichen anderen Novizen in die Tunnel unterhalb Bantoryns hinabstieg. Der Engel führte sie hinein in die Gänge der Schatten. Noch immer wurden nur mitunter einige wenige Engel in den Brak’ Az’ghur gesichtet, und so hatte Antonio zugestimmt, dass jene Novizen, die in naher Zukunft die nächste Stufe ihrer Ausbildung erreichen wollten, sich den Nektar der Purpurblüte besorgen durften, den sie zur Bewältigung der letzten Trainingseinheit vor ihrer Prüfung brauchten.
Nando trug eine noch nicht entflammte Fackel in der Hand und ging schweigend am Rand der Gruppe durch die Dunkelheit. Noch immer wusste keiner der Novizen, welche Aufgaben sie während der Prüfung erfüllen, welche Gefahren sie bestehen mussten, doch Antonio hatte ihr Ziel für diese letzte Einheit klar benannt: Sie sollten das Garn der Schatten stehlen, das sich in den Sümpfen der Schatten befand – jenem Bereich der Brak’ Az’ghur, der in etlichen Gängen vom Schwarzen Fluss abzweigte und dessen Finsternis kein Nephilimauge durchdringen konnte. Nando dachte an all die Bilder, die er von dem sagenhaften Schrecken gesehen hatte, der in diesen Gängen leben sollte, schattenhafte Zeichnungen mit gewaltigen Zähnen und wahnsinnigen Augen, deren Blick sich durch das Papier zu brennen schien, jedes Mal, wenn er sie betrachtete, und von den Klauen, aus denen Pfeile schossen, kaum sichtbar und dünn wie Nadeln, aber innerhalb von wenigen Wimpernschlägen tödlich. Brachte man Licht in die Sümpfe der Schatten, war man des Todes, so viel war sicher. Heimlich musste man sich hineinschleichen, lautlos durch die Dunkelheit gleiten – und sehen können in der Finsternis. Nur ein
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