Nephilim
mir gab. Darin wurde beschrieben, was die Galkry ihren Opfern antun. Sie lähmen sie mit ihrem Gift und fressen sie von innen her auf. Dabei halten sie ihr Opfer bei Bewusstsein, weil sie sich an seinem Schmerz und seiner Todesfurcht weiden. Es waren auch Bilder in dem Buch von den Opfern, die gefunden worden sind. Ihre Gliedmaßen waren unnatürlich verdreht, ihre Haut hing wie ein zerrissenes Tuch um ihre Körper, und ihre Augen – es war, als wären sie zerbrochen wie Glas.«
»Es ist nicht gerade hilfreich, uns jetzt solche Geschichten zu erzählen«, stellte Riccardo fest, doch auch er starrte reglos auf den Tunnel.
Gerade wollte Nando sich aufsetzen und die Furcht von seinen Schultern schütteln, als Paolo das Boot mit einem Sprung verließ. »Wir sind Krieger Bantoryns«, sagte er, und obgleich seine Stimme ein wenig zitterte, wandte er den Blick nicht dem Tunnel zu, sondern schaute zu seinen Gefährten hinauf. »Die Galkry sind sehr gefährlich, sie werden uns töten, wenn wir es ihnen erlauben, aber wenn wir uns vorsehen, dann können wir ihnen entkommen.« Er warf Nando einen Blick zu, kurz nur und flüchtig, und fügte hinzu: »Ich habe mich mein Leben lang gefürchtet, das wisst ihr. Aber ich habe gemerkt, dass man nicht immer Angst haben darf. Oder dass man Dinge eben trotzdem erledigen muss. So, wie Nando es getan hat.«
Nando spürte die Blicke der anderen, verlegen hob er die Achseln. »Antonio hat jeden von uns für würdig befunden, sich dieser Gefahr zu stellen«, erwiderte er und sprang ans Ufer. »Gemeinsam werden wir es schon schaffen.«
Er trat näher an den Tunnel heran, hörte, wie die anderen das Boot verließen, und schaute in die starre Finsternis, aus der die Kälte strömte.
»Ich werde vorausgehen, wie wir es besprochen haben«, raunte Paolo und legte die Hand auf den Knauf seines Schwertes. »Wenn jeder von uns seine Aufgabe erfüllt, wird uns nichts passieren.«
Mit diesen Worten trat er in die Dunkelheit. Nando wartete, bis die anderen ihm gefolgt waren, und ging ihnen nach. Er brauchte einen Augenblick, um sich an die Finsternis zu gewöhnen, doch wie zuvor konnte er nach kurzer Zeit die Umrisse des Tunnels erkennen. Die Decke hing niedrig, sodass sie ein wenig geduckt gehen mussten. Auf dem Boden lagen festgetretene Rollsteine, die Wände waren von einem flechtenartigen Pilz bedeckt und wiesen unregelmäßige Nischen und Gänge auf, die sich in der Dunkelheit verloren. Vereinzelt hörte Nando ein Scharren wie von sich lösenden Felsbrocken, die in einem benachbarten Gang in die Tiefe fielen, und während er anfangs noch jedes Mal zusammenfuhr, lernte er schnell, sich in den Schatten zurechtzufinden. Es schien ihm, als wären sie in den Körper eines gigantischen Tieres eingedrungen und müssten nun die Geräusche erdulden, die dessen Eingeweide zustande brachten. Nur der Wind, der immer wieder mit plötzlich zunehmender Kälte nach seinem Haar griff und ihm ins Gesicht fuhr, erschreckte ihn jedes Mal aufs Neue.
Sie waren schon eine ganze Weile durch die Dunkelheit geschlichen, als Nando meinte, einen Laut zu hören, kaum mehr als ein Flüstern vielleicht, und doch drang ihm der Ton ins Mark und ließ ihn erschaudern. Er klang wie das leise Wimmern eines sterbenden Tieres oder der hilflose, schon halb erstickte Schrei nach einer Hilfe, die nicht kommen wird. Abrupt blieb Nando stehen. Er hatte diesen Laut schon einmal gehört.
Wartet.
Die anderen reagierten umgehend auf seinen Gedankenbefehl. Paolo ging in Angriffshaltung, Ilja errichtete einen Schutzwall um die Gruppe, und Riccardo sicherte sie zu den Seiten hin ab. Nando hatte längst einen Flammenzauber in seine linke Faust geschickt, doch er wunderte sich nicht darüber, in der Finsternis des Ganges hinter ihnen keine Kreatur der Schatten erkennen zu können. Er hatte diese Gesänge, die aus einiger Entfernung zu ihnen drangen, schon einmal vernommen, und er erinnerte sich gut daran, wie er neben Antonio durch den Nebel der Ovo gegangen und von den Klängen dieser Wesen verzaubert worden war. Er hatte viel über die Gräueltaten der Galkry gelesen, er kannte die Bücher, von denen Ilja gesprochen hatte, doch nun, da er den Gesängen lauschte, die durch die Finsternis klangen, wusste er, dass er keine Ahnung gehabt hatte von dem, was in diesen Schatten hauste.
Im ersten Moment klangen sie wie die Gesänge der Ovo, doch bereits nach wenigen Tönen wallte die Dunkelheit durch jeden Laut, bäumte sich wie ein fühlbares
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