Nephilim

Propeller war mit Bannzaubern gedämpft worden, sodass nur noch ein unwirkliches Säuseln zu hören war. Nacheinander legten die Boote an, die Ritter sprangen an Land und sahen mit leichtem Lächeln zu den Novizen herüber. Nando stand neben den anderen Nephilim seiner Stufe und bemühte sich vergebens, ruhig zu atmen.
    »Krieger Bantoryns«, rief Antonio und verstärkte mit der Feierlichkeit in seiner Stimme die allgemeine Aufregung. »Die vergangenen Tage habt ihr genutzt, um eure Fähigkeiten zu stärken, um eure körperlichen Wunden, so sie aus der letzten Trainingseinheit vorhanden waren, heilen zu lassen, und um euch vorzubereiten auf das, was euch jetzt erwarten wird.« Er hielt inne. Nando konnte sich nicht erinnern, eine derartige Menge von Novizen jemals in so vollendeter Stille erlebt zu haben. »Ihr habt das Mark der Purpurblüten gewonnen. Ihr habt fleißig gelernt und hart trainiert, ihr habt alle Voraussetzungen geschaffen, um auf die nahende Prüfung vorbereitet zu sein – fast alle. Lange habt ihr darüber gerätselt, welche Aufgabe ihr erfüllen, welche Gefahren ihr meistern müsst, um die Prüfung zu bestehen, und nun ist es an der Zeit, dass ihr es erfahrt. Nicht umsonst sollt ihr das Garn der Schatten erlangen – denn ihr werdet es brauchen. Ziel eurer Prüfung wird es sein, einen Ovo zu fangen.«
    Eifriges Flüstern zog durch die Reihen, und während Nando die teils verwirrten, teils erleichterten Gesichter der anderen sah, beschlich ihn selbst ein ungutes Gefühl. Er dachte an Olvryon, an die betörenden Gesänge der Ovo. Sie waren vor den Engeln da, vor den Dämonen und vor den Menschen, klang Antonios Stimme in seinen Gedanken wider . Berührst du einen Ovo gegen seinen Willen, wird diese Berührung dich töten.
    Antonio wartete, bis die Unruhe sich gelegt hatte.
    »Nun kennt ihr also den Gegenstand eurer Prüfung«, sagte er dann. »Und wie, das frage ich euch, fängt man ein solches Geschöpf, ein Wesen aus Licht und Nebel, das niemandem gehorcht außer dem Herzschlag, der diese Welt durchpulst?«
    Er hielt erneut inne, und selbst wenn seine Novizen die Antwort wussten, öffnete keiner den Mund, um sie zu geben. Es herrschte eine atemlose, fast andächtige Stille.
    »Ein solches Licht wie einen Ovo vermag nur ein ihm ebenbürtiger Schatten zu fangen«, sagte Antonio, schaute von einem zum anderen und fügte ein Wort hinzu. Er tat es in Gedanken, geisterhaft und flüsternd. Galkry .
    Nando schauderte, als der Name die Bilder der Schreckgestalten in ihm heraufbeschwor, die er in den Lehrbüchern gesehen hatte, und Antonios Stimme ließ die Nephilim näher zusammenrücken.
    »Sind die Ovo Ordnung und Licht, bedeuten die Galkry Chaos und Dunkelheit. Sie sind durchtrieben, wo die Ovo rein sind, atmen Glut und Flammen, wo die Ovo von Nebel und Eis durchflossen werden, und kennen die ewige Gier, die in ihnen wütet wie ein bösartiges Geschwür, während ein Ovo die Ruhe atmet, die er ist. Und doch entspringen sie demselben Prinzip, sind beide Licht, beide Dunkelheit – auf ihre Art, die sie einander so ähnlich und doch so verschieden macht wie zwei Seiten einer Münze. Und wenn ihr genau hinhört, könnt ihr bei beiden den Herzschlag hören – den Herzschlag der Welt.« Für einen Augenblick sah Antonio Nando direkt an, dann wandte er sich wieder an alle. »Sie hausen in den zerfressenen Höhlen der Unterwelt, in jenen Bereichen, die das Gift mancher Quellen inzwischen verlassen hat, sie lauern in den modrigen Gängen und in den Stollen, die der Schwarze Fluss mit seinem Wasser nur noch halb durchzieht. Finster ist es dort, so finster, dass kein Lichtzauber der Welt dagegen etwas ausrichten könnte. Denn was den Ovo der Nebel, ist den Galkry die ewige Dunkelheit, und um für eine kurze Zeit die Augen eines Galkry zu bekommen, braucht ihr das Mark der Purpurblüten. Träufelt euch sieben Tropfen in jedes Auge, die Formel kennt ihr gut, ich habe sie jeden von euch wieder und wieder gelehrt, um euch vor Blindheit zu bewahren.«
    Ein nervöses Raunen ging durch die Reihen, das jedoch nach einem strengen Blick Antonios umgehend verstummte. Nando zog die gläserne Pipette, die er am Morgen wie alle anderen unter Antonios Anweisung vorbereitet hatte, aus seiner Tasche, legte den Kopf zurück und öffnete die Augen. Das Mark der Purpurblüte hatte sich dunkel verfärbt, langsam quoll der erste Tropfen aus der Pipette. Nando hielt sein Lid mit dem Finger fest, um nicht zu zucken, und ertrug die