Nephilim
unangenehme Kälte, als der Tropfen sein Auge traf. Mit stockendem Atem zählte er jeweils sieben Tropfen in seine Augen, sprach die Formel und unterdrückte den Schwindel, der gleich darauf von ihm Besitz ergriff. Er fuhr sich über die Augen und fühlte einen kurzen und stechenden Schmerz. Es würde eine Weile dauern, ehe sich seine Sehfähigkeiten veränderten, und doch spürte er deutlich, dass er nun nicht mehr zurückkonnte. Die Reise in die Sümpfe der Schatten hatte begonnen.
»Ihr werdet diese Boote besteigen«, sagte Antonio und deutete hinter sich auf die Amphibienfahrzeuge, die wie Konstrukte aus Morpheus’ Werkstatt auf dem Wasser hockten (und genau das waren sie vermutlich). »Ihr werdet euch in Gruppen zusammenfinden, die Aufgaben verteilen und in das Gebiet der Galkry vordringen, lautlos und schattenhaft, wie ich es euch lehrte. Dort werdet ihr einander schützen, ihr werdet eines der Nester finden, in denen ein Galkry schläft – und dort schneidet ihr eine Strähne des Garns ab, aus der ihr die Schlinge für die Ovo fertigen werdet. Anschließend kehrt ihr, so schnell wie ihr könnt, in eure Boote zurück.«
Auf der Stelle begann der Tumult, die Gruppen fanden sich zusammen. Nando bewegte langsam die Finger seiner linken Hand. Er ahnte, dass er wieder einmal als Letzter übrig bleiben und dann von Antonio einer Gruppe zugeordnet werden musste, und auch wenn er möglicherweise nicht mehr sofort von den Novizen fortgeschickt werden würde, wollte er doch nicht das Risiko eingehen, einen Schritt zu viel auf sie zuzugehen und sie hinter ihre Mauern zurückzutreiben. Er schaute über ihre Köpfe hinweg. Ein Stück weiter den Fluss hinauf sprach Drengur gerade mit einigen Novizen der höheren Klassen. Sie würden ebenfalls die Fahrt über den Schwarzen Fluss antreten. Für einen Moment dachte Nando an Noemi und daran, dass sie ihrem Ziel, in die Garde Bantoryns aufgenommen zu werden, damit wieder einen Schritt näher war. Er konnte sie sich gut vorstellen in einer Reihe mit den stolzen Rittern der Stadt, in der auch ihr Bruder einst gestanden hatte.
»Nando«, sagte eine Stimme, die unwillkürlich Abscheu in ihm erregte, und zerriss seine Gedanken. Unwillig schaute er auf und blickte in das unsicher lächelnde Gesicht von Paolo. Hinter ihm standen Ilja und Riccardo, die beiden sahen schweigend zu ihnen herüber.
»Wie wäre es, wenn du zu uns in die Gruppe kommen würdest?«, fragte Paolo vorsichtig. Er tat das so ernst und ohne jeden Anflug von Ironie, dass Nando die Luft wegblieb. Paolo zuckte verlegen mit den Schultern und lächelte schief. »Nicht, dass wir erwarten, dass du uns wieder das Leben rettest. Aber wir dachten, dass es Zeit wird, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Zeit dafür, einen neuen Anfang zu machen.«
Nando zog die Brauen zusammen, er bemerkte die verlegene Röte, die in Paolos Wangen stieg, und das angespannte, erwartungsvolle Schweigen der anderen. Kurz glaubte er, dass sie gleich darauf in schallendes Gelächter ausbrechen würden, doch Ilja lächelte ein wenig, und Riccardo stimmte Paolos Worten mit vorsichtigem Nicken zu.
»In Ordnung«, erwiderte Nando etwas unsicher, doch kaum dass diese Worte über seine Lippen gekommen waren, fiel die Anspannung von den anderen ab, und sie lachten erleichtert.
»Wir werden das zusammen schaffen«, sagte Paolo und klopfte Nando auf den Rücken, während sie das Sumpfboot betraten. »Was die Formation betrifft, die wir in den Sümpfen einnehmen müssen, wird es am besten sein, wenn ich vorangehe. Riccardo und Ilja schützen uns in der Mitte. Hast du etwas dagegen, wenn du uns den Rücken freihältst? Ich glaube, dass du dieser Aufgabe mehr als gerecht werden kannst, oder was meint ihr?«
Die anderen nickten, und Nando nahm die Position an. Paolo schwang sich auf den erhöhten Steuermannsitz, von dem aus die Sicht über möglichen Bewuchs und Steine in sumpfigem Gelände gewährleistet war, und klatschte ein paarmal in die Hände. »Ich werde euch führen, wenn ihr nichts dagegen habt. Mit Noemi bin ich schon ein paarmal in den Sümpfen unterwegs gewesen, ich kann euch sagen: Am Anfang hatte ich ganz schön Angst. Aber mit der Zeit findet man sich dort gut zurecht.«
Nando warf Paolo einen Blick zu, denn er hörte den nervösen Klang in dessen Stimme genau. Aber auch er selbst konnte sich der Aufregung nicht erwehren, die nun, da Paolo das Boot wendete, von ihm Besitz ergriff. Er schaute sich noch einmal nach Antonio um, der mit
Weitere Kostenlose Bücher