Nephilim
Paolo war, der kam, um seinen Plan zu vollenden, und hatte seinen Verstand erst nach einer ganzen Weile davon überzeugen können, dass dieser Feigling nichts dergleichen tun würde. Er war ein hinterhältiger Täuscher, der nur im Geheimen agieren konnte – dort, wo es niemand sah, der ihn dafür zur Rechenschaft ziehen konnte. Nando war sich bewusst, dass er in Zukunft auf der Hut sein musste, doch auf der Krankenstation hatte er nichts zu befürchten, dorthin würde sich Paolo nicht wagen. Stattdessen kamen ihn Riccardo und Ilja besuchen. Ein wenig verlegen standen sie an seinem Bett, während der Heilungszauber sein Bein in blauen Nebel hüllte, doch je länger sie blieben, desto entspannter wurden ihre Gespräche, und als sie nach einer Weile gingen, verabschiedeten sie sich mit einem Lächeln. Auch mit ihnen sprach Nando nicht über Paolo, aber als er kurz darauf vollends genesen war, kamen sie vorbei, um ihn zu einem Abend im Flammenviertel mitzunehmen. Gemeinsam liefen sie über die Schwarze Brücke, Ilja hakte sich bei ihm unter, Riccardo erklärte ihnen den komplizierten Mechanismus der Schrauben und Zahnräder mancher Schwebebrücken, und sie kauften an einem Stand geröstete Kastanien und teilten sie miteinander. Sie begegneten Tolvin, dem Brückenwärter, der sie mürrisch betrachtete, doch auch jenseits der Akademie hatte die Kunde von Nandos Kampf gegen Avartos sich verbreitet und kratzte zusammen mit dem Zauber der aufkeimenden Freundschaft zwischen den beiden anderen und ihm selbst an der Mauer, welche die Bewohner Bantoryns ihm gegenüber errichtet hatten. In letzter Zeit war es immer wieder vorgekommen, dass sie ihn bei Besorgungen in der Stadt mit beinahe freundlichen Gesichtern betrachtet hatten, und in der Bar des Flammenviertels hatte der Wirt ihn mit seinem Namen angesprochen – Guten Abend, Nando , hatte er gesagt, und nicht wie zuvor, wenn er ihn auf der Straße getroffen hatte: Teufelssohn .
Nando erinnerte sich daran, dass er nach dem ersten gemeinsamen Abend im Flammenviertel ans offene Fenster seines Zimmers getreten war und für Riccardo und Ilja auf der Geige gespielt hatte – doch nicht nur für sie, sondern auch für den Wind, den Mohn, den Duft Bantoryns, für die Sterne aus Feuer und Eis, für den Schwarzen Fluss und die Brücken in ihrem ewigen Tanz aus Schwere und Metall – und für all die anderen Bewohner dieser Stadt, für ihre Angst, für ihren Zorn, aber auch für ihre Sanftmut, ihre Stärke und jedes vorsichtige Lächeln. Und er erinnerte sich daran, wie ihm der Ruf einer Klarinette geantwortet hatte, es war Riccardo gewesen, der seinem Spiel seit jenem Abend Antwort gab, ihre Musik war über die Dächer Bantoryns geflogen, und der letzte Ton hatte sich noch lange in der Luft gehalten, als wollte er sich weigern, zu verklingen.
Nando fuhr sich über die Augen. Auch an diesem Abend war er mit Riccardo und Ilja ins Flammenviertel gegangen. Es war schön gewesen, mit ihnen zusammen zu sein, in einer Bar herumzusitzen, ein wenig Tischfußball zu spielen und über alles und nichts zu reden, und doch war er schweigsam geworden, als das Gespräch auf die Prüfung gekommen war, die in genau sieben Tagen stattfinden würde. Die anderen hatten geglaubt, dass er sich vor ihr fürchtete, und sicher spielte auch das eine Rolle, aber der wahre Grund für sein Schweigen hatte woanders gelegen. Die Prüfung brachte ihn seinem Ziel einen Schritt näher. Er würde Bhrorok bezwingen – und dann würde er Bantoryn verlassen und mit ihm jedes Wesen, das ihm in dieser Stadt ans Herz gewachsen war. Natürlich vermisste er seine Tante, Giovanni und seine Freunde aus der Oberwelt mehr, als er sagen konnte. Aber dennoch beschlich ihn immer häufiger ein seltsames Gefühl, wenn er daran dachte, in das Leben desjenigen zurückzukehren, der er früher einmal gewesen war.
Nando zog die Vorhänge zu. Er stand in der Dunkelheit, Bantoryns Lichter flammten hinter dem Stoff wie farbige Feuer, und er musste wieder an Yrphramar denken wie in den Augenblicken kurz nach Silas’ Tod, als er auf dem Mohnfeld der Stadt gestanden hatte. Erneut spürte er die Sehnsucht in sich aufflammen, von der Yrphramar oft gesprochen hatte, die Sehnsucht nach einer Heimat, die unstillbar war. Was würde geschehen, wenn er aus dem Kampf gegen Bhrorok siegreich hervorging? Was sollte dann aus ihm werden? Konnte er ein normales Leben in der Welt der Menschen führen, wie er es noch vor kurzer Zeit vorgehabt hatte? Konnte
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