Nephilim
darum ging, die Bewohner Bantoryns für bestimmte Dinge zu begeistern oder sie dagegen aufzubringen, er bemerkte Morpheus und Salados, die hitzig miteinander diskutierten, während Salados ein halb zerrissenes Stück Pergament in der Hand schwenkte, doch er sah all das wie durch einen Schleier. Sein Blick glitt hinab auf das Podest, und da erblickte er den Grund für die nächtliche Zusammenkunft.
Drei Engel lagen auf den Steinen. Ihre Körper schienen aus flüssigem Silber zu bestehen, mit nichts bekleidet als einfachen Leinentüchern. Feingliedrige Adern liefen über ihre Schwingen wie ein Geflecht aus kostbarem Kristall. Langes, weiß schimmerndes Haar ergoss sich über ihre Schultern, und auf ihren schmalen Gesichtern lag ein erhabenes Lächeln. Nando spürte den Anflug der Sehnsucht, die einst in diesen Geschöpfen gelebt hatte, fühlte sie wie den letzten Atemzug der Engel über seine Schwingen streifen.
»Throne«, flüsterte Ilja neben ihm.
Sofort wurde der Name von Umstehenden aufgegriffen und pulste als unheimliches Flüstern über den Platz. Nando wusste, dass Throne einst Engel der ersten Hierarchie waren, dass sie als Räder des Lichtwagens Gottes galten und zu den ätherischsten und schönsten aller Engel zählen sollten. Doch diese Engel, das konnte jeder sehen, waren tot. Ihre Körper fielen in sich zusammen, schon jetzt waren sie kaum mehr als Trugbilder ihres einstigen Glanzes, und Nando kam das Bild eines Schmetterlings in den Sinn, der mit zerfetzten Flügeln am Rand einer viel befahrenen Straße lag. Jemand hatte diese Engel nicht einfach nur getötet – jemand hatte sie in der Luft zerrissen, außer sich vor Zorn, da er ihre wahre Schönheit nicht hatte vernichten können.
Nando zog die Arme um den Körper. Die Stimmen der Nephilim um ihn herum klangen seltsam dumpf an sein Ohr, als wäre er auf einmal weit von ihnen entfernt. Langsam hob er den Blick und sah, dass es kein Pergament war, das Salados in den Händen hielt. Es war ein blutiges, halb zerrissenes Stück Haut mit in schwarzen Strichen hineingeritzten Zeichen. Der Schreck raste wie eine Faust auf ihn zu, und als er zurückwich, fuhr ihm der Wind mit eisiger Hand in den Nacken. Es war nicht der Atem Bantoryns, der da nach ihm griff, es war ein Sturm, der aus diesen schwarzen Buchstaben kam, ein todbringender Orkan, der einmal über die Köpfe der Nephilim hinwegflog und niemanden berührte außer Nando. Er sah nicht mehr Salados, der düster zu ihm hersah, auch nicht die langsam dahinwelkenden Körper der Engel. Er war sich nicht einmal mehr sicher, dass er sich überhaupt noch in Bantoryn befand. Es schien ihm, als stünde er wieder in der Sackgasse in Rom, die Augen angstvoll aufgerissen, und als spürte er die starre Totenhand, die sich langsam um seine Kehle schloss. Vor sich, so nah, dass er den kalten Atem auf seinen Wangen fühlen konnte, sah er ein kalkweißes Gesicht mit Augen, deren Finsternis sich zu einem nadelfeinen Punkt zusammengezogen hatte. Der breite Mund war nichts als eine blasse Narbe und verzog sich nun zu einem boshaften Lächeln. Bhrorok.
Nando keuchte und stieß mit dem Rücken gegen einen Nephilim, der ihn unsanft von sich schob. Ilja legte ihm die Hand auf den Arm, sie sah ihn fragend an, doch da riss Salados sich mit herrischer Geste von Morpheus los, der ihn zurückhalten wollte, und sprang auf das Podest. Alle Blicke wandten sich ihm zu, Schweigen senkte sich über den Platz. Nando starrte auf das blutige Stück Haut, das Salados nun emporhob.
»Vor wenigen Stunden«, begann Salados und ließ seinen Blick wie eine brennende Fackel über die Köpfe der Anwesenden fliegen, »fanden zwei Ritter der Garde die Leichen dieser Engel in den Brak’ Az’ghur.«
Ein Raunen ging durch die Menge, und Nando wich das Blut aus dem Kopf. Er war dankbar, als Ilja seinen Arm fester umgriff.
»Sie fanden sie genau so, wie ihr sie jetzt vor euch seht«, fuhr Salados fort. »Äußerlich scheinbar unversehrt, doch innerlich zerfressen, ausgehöhlt von Kreaturen der Finsternis, die in der Schattenwelt seit langer Zeit nicht mehr gesehen wurden. Sie stammen aus den tiefsten Regionen der Dunkelheit, aus Reichen, die selbst ich nur vom Hörensagen kenne, und sie dienen einem Dämon, der mächtiger ist als so mancher Engel, der neben dem Thron der Königin steht.« Er hielt inne, sein Blick umfing Nando mit kalter Gewalt. »Bhrorok«, raunte Salados, doch seine Stimme raste über den Platz wie ein Schwerthieb. »Erstanden
Weitere Kostenlose Bücher