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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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er alles zurücklassen, was er in der Unterwelt gefunden hatte, vermochte er es, sich von seinen Schwingen zu trennen und nie wieder Magie anzuwenden? Oder sollte er in Bantoryn bleiben, im Verborgenen, sollte er ein Leben weit fort von seiner Familie und seinen Freunden führen – ein Leben als Krieger der Schatten? Und konnte er wirklich in der Stadt jenseits des Lichts bleiben, mit der Macht des Teufels in seiner Brust, die ihn zeit seines Lebens begleiten würde? Oder wäre es ratsamer, in die Oberwelt zurückzukehren, äußerlich scheinbar ein Mensch, aber doch verstümmelt und unerkannt?
    Diese Fragen trieben ihn um, und je länger er darüber nachdachte, desto schwerer fiel es ihm, Antworten zu finden. Nur mitunter, wenn er den Duft des Mohns einsog und den Blick hinüberschweifen ließ zum Nebel der Ovo, spürte er tief in sich die Gewissheit, dass er sich seinen eigenen Platz suchen musste, seinen Platz zwischen den Welten, wie Yrphramar es getan hatte, und der Gedanke daran schickte ein Gefühl der Unsicherheit und Kälte in seine Glieder.
    Die Müdigkeit machte ihm das Stehen schwer, und er kehrte zurück in sein Bett. Trotz dieser Gedanken hatte er so ausgiebig wie möglich für die bevorstehende Prüfung gelernt. Er spürte die Erschöpfung deutlich in seinen Knochen – und dennoch fand er keinen Schlaf. Seufzend drehte er sich auf die Seite, starrte gegen die Finsternis seiner Wand und dachte für einen Moment an Noemi. Sie hatten kein einziges Wort miteinander gewechselt, seit sie ihn gerettet hatte, und als er sich am Ufer des Schwarzen Flusses nach seiner Begrüßung durch die anderen zu ihr umgedreht hatte, war sie verschwunden gewesen. Vermutlich lernte sie ebenso wie er selbst intensiv für die Prüfung. Noch einmal flammte ihr Bild in ihm auf, wie sie dastand mit dem noch glühenden Messer in ihrer Hand und mit undurchsichtigem Blick zu ihm herabsah. Und es gab eine Zeit, da es keine Kriege gab, keinen Zorn und keine Furcht. Es muss schön gewesen sein, damals gelebt zu haben – meinst du das nicht auch? Der Schlaf spülte als dunkle Welle über ihn hinweg. Dann umgab ihn nichts mehr als samtene Dunkelheit.
    Augenblicke später, so schien es ihm, wurde er von aufgeregten Stimmen geweckt. Er setzte sich auf, noch immer glomm das silbrigschwarze Licht der Laternen ins Zimmer. Es war also noch mitten in der Nacht, doch vor seinem Zimmer liefen Novizen über den Flur. Er hörte sie miteinander sprechen, leise und flüsternd, und er spürte die Anspannung in der Luft, die ihn aus dem Bett trieb und jede Müdigkeit von seinen Schultern riss. Irgendetwas war geschehen.
    Eilig schlüpfte er in seine Kleider und Schuhe, schob die Geige, in der Kaya schlief, unter sein Bett, und verließ das Zimmer. Er lief Ilja beinahe in die Arme.
    »Was … «, begann er, doch sie schüttelte den Kopf.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie und zog ihn im Strom der anderen Novizen den Flur hinab. »Irgendjemand hat gesagt, dass Engel gefunden wurden – tote Engel, in einem der Gänge nicht weit entfernt von der Stadt. Sie liegen auf dem Markt der Zwölf, und weil niemand weiß, was geschehen ist, machen sich nun alle auf den Weg.«
    Sie sagte noch mehr, aber ihre Stimme ging im allgemeinen Lärm unter, als die Novizen aus der Akademie stürmten. Die Luft war kühl, sie schlug Nando mit ungewohnter Härte ins Gesicht, und selbst der Mohnstaub, der sich wie ein Teppich aus Blut auf das Pflaster der Straßen legte, konnte die Anspannung nicht fortwischen, die sich mit jedem Schritt stärker in seinem Nacken festkrallte. Er spürte die Grabeskälte, die auf einmal durch die Gassen strich, meinte sogar, schwere Schritte zu hören, die ihm folgten, doch jedes Mal, wenn er sich umwandte, sah er nichts als die aufgeregten Gesichter der Nephilim.
    Die ganze Stadt war auf den Beinen, so schien es, dicht an dicht drängten die Bewohner Bantoryns dahin, die Luft schwirrte von ihren Schwingenschlägen. Nando schnappte Gesprächsfetzen auf, aber sie verrieten nicht mehr als das, was er schon wusste. Er zog die Schultern an. Noch nie war ihm zwischen den Häusern der Stadt so kalt gewesen.
    Schließlich erreichten sie den Markt der Zwölf. Er war bereits gut besucht, aber Ilja drängte sich mit Nando im Schlepptau zwischen den Nephilim hindurch auf den Hauptsitz der Garde zu. Ein flammender Kreis vor dem Gebäude ließ sie innehalten. Nando schaute zu dem Podest hinüber, auf dem die Senatoren mitunter ihre Reden hielten, wenn es

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