Nephilim
und träge. Nando hatte etwas gehört, ein Scharren, ein Flattern, und als hätte dieses Geräusch einen Namen zu ihm getragen, flüsterte er leise: »Harkramar.«
Kaya fuhr so heftig zusammen, dass sich ihr Fell aufstellte, und starrte fassungslos in den Gang, doch gleich darauf hörte Nando ein ihm vertrautes Geräusch. Ein Taxi schoss aus der Dunkelheit des Ganges, eine orangefarbene Plastikkuh prangte auf der Kühlerhaube und raste direkt auf ihn zu. Erleichtert stieß Nando die Luft aus, während Kaya mit einem Satz in ihrer Geige verschwand. Mit quietschenden Reifen hielt das Taxi an, nur wenige Fingerbreit von Nandos Beinen entfernt. Die Fahrertür flog auf, und heraus sprang Giorgio. Er trug ein leuchtend gelbes Hemd und wild gemusterte Bermudas, und als er Nando erblickte, strahlte er von einem Ohr zum anderen.
»Nando!«, rief er und umarmte ihn stürmisch, woraufhin sie beide in eine Wolke aus Räucherstäbchenaroma gehüllt wurden. »Ich hab es dir ja gesagt: Ein Pfiff genügt, und ich eile zu dir! Ich habe so oft an dich gedacht! Wie geht es dir, wie kann ich dir helfen?«
Nando lächelte. Giorgio hatte sich überhaupt nicht verändert, und für einen Augenblick zog ein angenehmes Gefühl der Vertrautheit über seinen Rücken. Doch sofort kehrte seine Anspannung zurück. Unruhig sah er sich um. »Lass uns fahren«, sagte er leise. »Hier ist es nicht sicher.«
Giorgio nickte schnell, sein Grinsen verschwand von seinem Gesicht. »Nun«, sagte er, nachdem sie im Taxi Platz genommen hatten. Es sah aus wie neu, weicher grüner Plüsch zierte die Sitze, und eine winzige Diskokugel hing zwischen Fahrer- und Beifahrersitz von der Decke. »Wo soll es hingehen?«
Nando holte tief Atem. »In die Oberwelt«, erwiderte er und hörte ein aufgeregtes Husten aus dem Inneren seiner Geige. »Ich muss fort aus dieser Stadt, in der mich auf einmal alle bei meinem richtigen Namen nennen – so, als wäre ich immer schon ein Teil von ihr gewesen, als hätte es nie etwas anderes gegeben als das hier: ein Leben in den Schatten, ein Leben in den Gassen Bantoryns.« Er schüttelte den Kopf. »Aber es hat ein anderes Leben gegeben. Ein Leben an der Oberwelt, ein Leben im Licht und unter Menschen, die mir nah waren. Ich will sie nur sehen, verstehst du, nur kurz, ich will nur wissen, ob es ihnen gut geht und ob sie mich schon vergessen haben. Ich will sehen, ob … « Er hielt inne. »Ob ich dort oben noch ein Leben habe.«
Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, war Giorgios Gesicht vollkommen ernst. Der Taxifahrer fragte ihn nichts, er bedrängte ihn nicht. Er sah ihn nur an, ruhig und abwartend, und erwiderte schließlich: »Ich hätte gedacht, du rufst mich früher.« Dann lächelte er auf diese ernste und wärmende Art und fuhr los. Beinahe lautlos glitten sie durch die Brak’ Az’ghur. Sie sprachen kaum miteinander, denn immer wieder hörten sie Patrouillen der Engel, und einmal sahen sie sie sogar, als sie in einiger Entfernung durch einen breiten Gang vor ihnen um die Ecke bogen, ohne sie zu bemerken. Hin und wieder begegneten ihnen auch Schattengnome, die sich von außen auf das Taxi setzten und neugierig hereinstierten, doch Kaya schlüpfte immer wieder aus ihrer Geige, funkelte sie mit bösartigem Leuchten in den Augen an und trieb sie in die Flucht. Es war ein langer Weg, den sie zurücklegen mussten, und doch erschien er Nando kaum länger als ein Gang ins Flammenviertel. Die Unruhe pulste durch seine Adern, und als sie endlich einen der geheimen Aufzüge erreichten, erschien es ihm, als würde er durch eine Tür in ein anderes Universum eintreten. Sie fuhren hinauf und landeten in einer kleinen Autowerkstatt mitten in der Stadt. Nando hörte den Lärm von der Straße und sah das Licht, das durch ein metallenes Tor fiel.
»Ich danke dir«, sagte er leise. »Aber ich glaube, dass ich den Rest des Weges allein gehen muss.«
Giorgio nickte. »Behalte die Pfeife, Menschensohn. Wann immer du mich rufst, werde ich da sein.«
Für einen Moment schien es Nando, als säße er einem alten Mann gegenüber, einem Freund, einem Bruder – und als Giorgio den Kopf neigte und lächelte, wusste er, dass es genau so war. Giorgio war all dies vom ersten Augenblick an gewesen, da er Nando gesehen hatte. Nicht umsonst hatte er ihm seine Pfeife gegeben, nicht umsonst hatte er für ihn sein Leben riskiert. Er war ein Wanderer, wie Nando es war, ein Heimatloser und Suchender in der Welt der Menschen, und er gehörte zu jenen, die
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