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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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auch einmal ein wenig Natur auf dem Balkon zu haben. Nach wenigen Wochen waren sie aus ungeklärter Ursache vertrocknet, und auf Giovannis Frage, ob Mara nicht wieder einmal Blumen pflanzen wollte, antwortete sie stets, dass Blumen in den Wald oder den Garten gehörten und nicht in einen winzigen Kasten auf einem Balkon. E basta .
    Vorsichtig glitt Nando näher an das Fenster heran, spähte an dem zerrissenen Vorhang vorbei, der die halbe Tür bedeckte – und fuhr so heftig zusammen, dass er fast rücklings vom Balkon gestürzt wäre.
    Mara war allein. Sie saß auf dem schmalen Hocker, trug ihre Malerschürze und hielt eine Zigarette in der Hand, an der sie seit Minuten nicht gezogen hatte. Nando konnte die Glut beinahe hören, die den Ascherest immer länger machte, und er schaute in das Gesicht seiner Tante. Sie hielt die Augen geschlossen, sicher hatte sie wieder ohne Pause gearbeitet und war erschöpft. Ihre Finger waren mit Farbe bedeckt, ihre Wangen waren bleich und eingefallen, und um ihren Mund lag ein harter Zug, den Nando noch nie an ihr bemerkt hatte. Ihre Haare hatte sie mit einem Pinsel zusammengedreht und hochgesteckt, einzelne Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihr in die Stirn. Oft hatte Nando seine Tante so dasitzen sehen, und doch erschien es ihm nun, da er sie durch das Fenster ihres Balkons betrachtete, als sähe er sie zum ersten Mal. Er erinnerte sich an die Nachricht, die er ihr zu Beginn seiner Reise in die Unterwelt hatte zukommen lassen und in der er geschrieben hatte, dass sie sowohl sich selbst als auch ihn in Lebensgefahr bringen würde, wenn sie nach ihm suchen ließe. Sie hatte nicht nach ihm gesucht, und nun, da Nando ihr Gesicht sah, wusste er, was sie dies gekostet hatte. Sie hatte jede Nacht um Nando geweint – und Mara weinte nie.
    Auf einmal flammte das Gesicht seiner Mutter hinter ihrem Antlitz auf, das Gesicht seines Vaters, er hörte seine Eltern lachen, hörte sie weinen, und er wusste, dass es Mara in all den Jahren, da Nando bei ihr gelebt hatte, immer nur um eines gegangen war: so zu lachen, so zu weinen, wie es seine Eltern getan hätten, ihm Geschichten zu erzählen wie sein Vater und ihm durchs Haar zu streichen wie seine Mutter. Mara war keine Geschichtenerzählerin, sie war Malerin, und sie war auch nicht so sanft wie ihre Schwester – und doch stand sie keinem der beiden nach. Sie war es gewesen, die neben Nando am Grab seiner Eltern gestanden hatte, sie, die seinen Schlaf bewacht hatte, damals, als er nach ihrem Tod krank geworden war, und sie war es, die noch heute regelmäßig Blumen zu ihnen brachte, obwohl sie Friedhöfe hasste. Mara hatte sich nie Kinder gewünscht, sie hatte keine Geduld für Kinder, hatte sie immer gesagt – aber sie hatte immer Geduld für Nando gehabt.
    Er spürte Kayas Herzschlag an seiner Wange, als sie die Geige verließ und sich auf seine Schulter setzte. Lautlos schwang er sich auf den Balkon und lehnte einen Brief von außen gegen die Tür. Er hatte ihn in den einsamen Nächten Bantoryns geschrieben, ihn bei sich getragen, um ihn in freien Augenblicken weiterzuschreiben, und obgleich es bei schweren Strafen verboten war, vor der bestandenen Prüfung Kontakt zu jenen aufzunehmen, die man als neu entdeckter Nephilim verlassen musste, hatte Nando schon vor einiger Zeit beschlossen, Mara diesen Brief zukommen zu lassen. Ursprünglich hatte er Antonio fragen wollen, doch nun konnte er ihn ihr selbst dalassen.
    Er hob den Blick. Mara konnte ihn nicht erkennen, dafür war es in der Wohnung zu hell, und doch öffnete sie in diesem Moment die Augen und sah ihn an. Kaya zuckte zusammen, erschrocken krallte sie sich an seiner Schulter fest, doch Nando stand regungslos. Er sah zu, wie Mara aufstand, wie die Asche ihrer Zigarette auf den Boden fiel, ohne dass sie es bemerkte, und wie sie dicht vor dem Fenster stehen blieb. Sie musste sich selbst ins Gesicht schauen, und doch glitt etwas über ihre Züge, als hätte sie in der Dunkelheit vor ihrem Fenster etwas erkannt, das jede Härte von ihr nahm. Nandos Kehle zog sich zusammen, dass er kaum atmen konnte. Er suchte nach Verzweiflung in ihren Augen, nach Kälte, nach Bitterkeit, vielleicht auch nach Vorwürfen, nach Zorn oder Trauer. Aber er fand nichts dergleichen darin. Alles, was er sah, war seine Tante Mara, ihre Wärme, ihre Sprödigkeit, und er sah sich selbst auf ihrem Schoß, das Gesicht mit Farbklecksen übersät, während er das erste Bild seines Lebens malte, einen leuchtend

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