Nephilim
Nandos Gesicht. »Ein Held«, erwiderte er mit leichtem Spott in der Stimme. »Was soll das sein, Luca? Wir sind keine Kinder mehr.«
»Ein Held ist jemand, der seinen eigenen Weg geht«, unterbrach Luca ihn, und in seinen Augen brannte ein Feuer, das Nando selten zuvor an ihm bemerkt hatte. »Niemals hättest du den in dieser Welt gefunden, das weiß ich, denn du bist nicht so wie ich. Du hättest niemals der werden können, der du bist, aber jetzt, Nando – jetzt kannst du es.«
Nando sah Luca an, die Worte seines Freundes sanken wie glatte Steine in sein Inneres, und in diesem Moment, da sie schweigend am Ufer des Tibers saßen, Luca in seinem zerknitterten Anzug und er selbst mit seinen Schwingen und der Faust aus Metall, da fasste Nando einen Entschluss. Eines Tages, wenn sie beide zu Helden geworden waren – der eine in den Schatten und der andere in der Menschenwelt, dort, wo man verlernt hatte, die wahren Helden zu erkennen – , dann würde er Luca mit hinabnehmen. Er würde seinen Freund durch den Nebel führen, und gemeinsam würden sie durch Bantoryns Gassen gehen, über sich die Sterne aus Feuer und Eis, und den Duft des Mohns wahrnehmen, diesen Geruch der Sehnsucht in der Welt jenseits des Lichts.
34
In düsterer Schönheit glitt der Mond durch seinen Himmel aus zerfetzten Wolken und warf seinen Schein auf den Nebel der Ovo, der langsam die Hügelkuppen des Palatins hinaufkroch wie ein Meer aus weißen Tüchern. Der Dunst flog über die Ruinen der einstigen Tempel und Paläste, umschlang die Stämme der Bäume mit lautlosem Griff und hüllte Gräser und Büsche in seinen geisterhaften Schleier, bis er an den Rändern des freien Platzes innehielt, auf dem die Novizen sich versammelt hatten. Die Geräusche der Stadt drangen nur gedämpft zu ihnen herüber und wurden von dem säuselnden, fast in verständlichen Worten flüsternden Wind übertönt, der mit dem Nebel gekommen war und die Prüflinge in ihren langen grauen Mänteln frieren ließ.
Langsam strich Nando über die Fasern seiner Schlinge. Neben ihm standen Riccardo und Ilja, aus dem Augenwinkel bemerkte er Paolo und ignorierte ihn, soweit es ihm möglich war. Noemi stand in einiger Entfernung. Sie hatte einen Punkt im Nirgendwo fixiert, und etwas in der stillen Dunkelheit ihrer Augen verstärkte die Anspannung in Nandos Nacken. Schweigend schaute er in den Nebel, der nicht grundlos aus den Tiefen der Unterwelt heraufgekommen war und sich in dichten Schwaden durch Roms Straßen zog. Seit jeher war er die Deckung der Nephilim – doch in dieser Nacht würde er mehr sein als das. In dieser Nacht würde er prüfen, wer es wert war, unter seinem Schutz zu stehen. Antonios Schritte knirschten auf dem unebenen Boden, als er aus dem Nebel tauchte wie eine Gestalt aus einer anderen Zeit. Er trug eine Uniform aus rostbraunem Leder. Die Schulterklappen, die Schließen und die Beschläge an Hüfte und Knien waren aus mattem Kupfer gefertigt. In verschlungenen Zeichen zogen sich Bruchstücke aus Grimorien über Arme und Schultern, und in der Hand trug er seinen Säbel. Die Nephilim traten beiseite. Schweigend sahen sie zu ihm hinüber, und als er den Blick hob und jeden Einzelnen von ihnen anschaute, da war es, als würde er ein kurzes Zwiegespräch mit ihnen führen. Nando hielt den Atem an. Er erwartete, Antonios Stimme in seinem Kopf zu hören, als dessen Blick ihn traf. Doch er sah nur das Lächeln, das sich auf die Lippen seines Mentors stahl, ehe dieser sich abwandte. Es war ein Lächeln voller Zuversicht, das ein wärmendes Gefühl über Nandos Rücken schickte.
»Die Sonne stieg flammender schon zur Mitte der Himmelswölbung«, sagte Antonio feierlich, »als sie die Mauern der Burg und Dächer einzelner Häuser von ferne erblickten, die jetzt römische Macht zum Himmel emporgebaut hat; damals noch herrschte in dem ärmlichen Reich Evander.« Er hielt kurz inne und lächelte über die ratlosen Gesichter seiner Novizen. »Diese Zeilen stammen von Vergil. So beschreibt er die Ankunft des aus Troja geflohenen Aeneas an der Stelle, an der später Rom gegründet wurde – und dies ist weit mehr als eine Legende. Seit Jahrhunderten lebten die Menschen dauerhaft auf dem Palatin, und lange schon dient er als Ausgangspunkt für das, was nun auf euch wartet.« Er holte Atem und umfasste seinen Säbel fester. »Novizen der Schatten! Ihr seid hier zusammengekommen, um euch der Prüfung zur nächsten Stufe eurer Ausbildung zu stellen – der Prüfung der
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