Nephilim
Für immer .
»Morgen werde ich die Prüfung ablegen«, sagte Nando, nachdem sie eine Weile schweigend auf die Wellen des Tibers geschaut hatten. »Anschließend werde ich lernen, höhere Magie zu wirken, und dann werde ich Bhrorok bezwingen – oder er mich.«
Luca sah ihn von der Seite an. »Hast du keine Angst?«
Nando hatte sich diese Frage in den vergangenen Wochen oft gestellt, doch erst jetzt, da er mit seinem besten Freund am Ufer des Tibers saß, brachte er die Antwort dazu über die Lippen. »Doch«, erwiderte er ruhig. »Ich habe eine Scheißangst. Aber es gibt Dinge, die man tun muss, auch wenn man Angst hat.«
Luca nickte, als würde er das ganz genauso sehen. »Wer sagt das?«, fragte er dennoch. »Dein Mentor, der Engel? Mensch, den würde ich gern mal sehen.«
»Nein«, erwiderte Nando nachdenklich. »Ein Freund.«
Er dachte an Silas, für einen Moment schien es, als würde er zu ihnen ans Ufer treten und mit einem Lächeln zu ihnen herüberschauen, ehe er den Kopf vor ihnen neigte und wieder in den Schatten verschwand. Luca betrachtete Nando, er schien zu spüren, dass traurige Gedanken in dessen Kopf vorgingen, und schwieg eine Weile. »Und was wirst du danach tun?«, fragte er schließlich. »Ich meine … «
»Ich weiß, was du meinst«, erwiderte Nando. »Bis vor Kurzem dachte ich, dass ich zurückkehren würde in die Menschenwelt, zu Mara, Giovanni, zu dir … Aber jetzt … « Er holte tief Atem. »Ich bin heute Nacht hierherauf gekommen, ohne genau zu wissen, aus welchem Grund. Ich wollte eine Gewissheit für mich finden, vor der ich lange davongelaufen bin.« Er wandte den Blick und sah seinen Freund direkt an, doch auf eine seltsame Weise schien es ihm, als würde er auch sich selbst ins Gesicht schauen – einem anderen Ich, das noch immer als Mensch auf diesem Stein saß und ihn staunend betrachtete. »Ich bin dort unten nicht zu Hause. Aber dennoch gehöre ich in die Schattenwelt, und das auf eine Art, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Dort unten bin ich mehr als nur der Teufelssohn, mehr als nur der Mensch. Ich bin einfach ich – auch wenn ich noch nicht weiß, wer das sein oder werden soll.«
Luca nickte. »Das klingt so, wie es sich jeder Mensch wünscht. Aber du scheinst nicht damit zufrieden zu sein.«
Nando stieß die Luft aus. »Zufrieden! Ich lebe versteckt in den Schatten, Luca, verfolgt von Engeln und Dämonen, und ich fürchte mich vor dem, was ich bin, vor dem, was ich werden könnte. Ich habe viele Kämpfe ausgefochten in den vergangenen Wochen, viele habe ich gemeistert, aber manchmal … « Er hielt inne und schaute zu den Häusern hinüber, die sich auf der anderen Seite des Flusses mit erleuchteten Fenstern in die Nacht erhoben. Er dachte an Yrphramar und dessen Worte über das Licht, das immer warm und golden zu dem einsamen Wanderer auf der Straße herausbricht, und er dachte daran, wie eben dieses Licht ihn gerade auf seinem Weg durch Rom berührt hatte. »Manchmal möchte ich einfach ein ganz normaler Mensch sein. Ein normaler Mensch mit einem normalen Leben. Verstehst du?«
Luca nickte, aber etwas Düsteres hatte sich in seine Augen geschlichen, und er verschränkte die Arme vor der Brust. »Du solltest dich reden hören«, sagte er, und obgleich seine Stimme noch immer sanft klang, hörte Nando doch den Zorn, der aus ihr sprach. »Wer bekommt schon eine solche Chance, Nando? Und wer wäre so dumm und würde sie ausschlagen in Anbetracht dessen, was ihn hier erwarten würde?«
Nando zog die Brauen zusammen. »Was … «, begann er, doch Luca schüttelte den Kopf.
»Sieh dich an! Nicht jeder erhält die Möglichkeit, ein neues Leben anzufangen, Flügel zu bekommen, einen Superheldenarm und Magie. Ja, Nando, so sehe ich das – du hast eine Chance bekommen, die andere niemals kriegen werden. Ich zum Beispiel werde morgen wieder in die Bank gehen, dort werde ich arbeiten, bis ich alt und grau bin, und sicher, es gibt viel Schlechteres, aber … « Luca griff nach Nandos Arm, wie früher, wenn er einen verrückten Einfall zu einem Streich gehabt hatte und ihn mit seinem Freund teilen wollte. Er schaute auf seine Hand, die auf den metallenen Streben ruhte, doch er zog sie nicht zurück. »Du hast die Möglichkeit, mehr zu werden als all das, was diese Welt aus dir gemacht hätte«, sagte er eindringlich. »Dort unten scheinen andere Regeln zu gelten als hier, dort könntest du ein Held sein, ist dir das eigentlich klar?«
Ein Lächeln zog über
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