Nephilim
gefrieren ließ vor Entsetzen und – Sehnsucht? Das Wort peitschte als Schrei durch den Abgrund in seinem Inneren, das Glas unter seiner Hand verfärbte sich schwarz und fiel in Ascheflocken zu Boden. Im nächsten Augenblick sprang die Frau auf die Beine. Furcht flammte über ihr Gesicht und nahm jedes Licht mit sich. Bhrorok fühlte dessen Schlag kaum, als es ihn verließ. Er spürte nur, dass er zur Besinnung kam und namenlose Kälte jede Regung erstickte. Er trat auf die Frau zu, sie war ein Mensch, nicht mehr. Wortlos hob er die Hand, und als er sie packte und mit sich riss, hörte er nichts als ein Lachen in seiner Finsternis widerklingen – ein Lachen wie aus tausend Scherben.
41
Der Wind fegte mit ungewöhnlicher Kälte über die Schwarze Brücke. Böen aus Mohnstaub stoben vorüber, legten sich für Augenblicke auf das Geländer, nur um gleich darauf in einem blutroten Wirbel zum Fluss hinabzustürzen. Es war spät am Abend, und kaum ein Nephilim war auf die Idee gekommen, bei dem ungemütlichen Wind vor die Tür zu treten. Die Lichter der Wohnungen glommen schwach durch die Staubschwaden und verliehen der Stadt eine düstere, unheilvolle Atmosphäre.
Nando lehnte am Geländer der Brücke und schaute zum Fluss hinab, ohne ihn zu sehen. Er hatte den Kragen seines Mantels aufgestellt, aber dennoch glitt der Wind seinen Nacken hinab und ließ ihn frösteln. Ohnehin fror er, denn er hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen. Immer wieder war Antonio in seinen Gedanken aufgetaucht, hatte sich mit langsamen Schritten von ihm entfernt und ihn mit einem puckernden Kopfschmerz zurückgelassen. Ich glaube an dich. Vom ersten Moment an glaubte ich an dich, und es gibt nichts, gar nichts, was du gegen diesen Glauben tun kannst. Eine kalte Schwere legte sich auf Nandos Schultern, als er die Worte in sich widerklingen fühlte. Vielleicht war es dieser Glaube, den er nicht ertrug, diese wissende und doch für ihn so unbegreifliche Zuversicht, mit der Antonio ihn betrachtete und in der sich eine tiefe Traurigkeit verbarg, die er sich nicht erklären konnte. Er vermutete, dass sie etwas mit Aldros zu tun hatte, und es schien, als würde Antonio etwas wissen, das Nando noch verschlossen blieb, etwas, das ihrer beider Leben in den Grundfesten erschüttern und verändern würde. Du kannst Luzifer vernichten, Nando – du ganz allein. Und eines Tages wirst du dies selbst erkennen.
Vereinzelte Stimmen drangen aus dem Flammenviertel zu ihm herüber, Gelächter und Schritte auf dem Asphalt, die sich entfernten. Er hätte gern mit Kaya über seine Gedanken gesprochen. Immer wieder hatte sie ihn in der vergangenen Nacht abwartend angesehen, als würde sie spüren, mit welchen Dingen er sich herumschlug. Doch Antonio hatte seine Worte nicht umsonst vor der Dschinniya verborgen, und Nando spürte, dass er erst seine Gedanken ordnen und einen Weg für sich finden musste, mit diesen Geheimnissen umzugehen, ehe er Kaya einweihte. Dennoch dachte er an sie, wusste, dass sie auch nun, da er sie in seinem Zimmer zurückgelassen hatte, in Gedanken bei ihm war und dass sie ihm sein Schweigen niemals vorwerfen würde. Er dachte auch an seine Freunde, an Riccardo und Ilja, auch an Noemi und all die anderen Bewohner der Stadt, die ihn in ihre Gemeinschaft aufgenommen hatten. Es würde schwer werden, mit diesem Geheimnis zu leben und mit dem Bewusstsein, ihnen nicht helfen zu können. Gerade hatte er einen Platz unter ihnen gefunden, doch nun war ein Schatten auf ihn gefallen, der ihn von den anderen trennte. Er würde Zeit brauchen, um sich mit seiner Einsamkeit abzufinden, mit dem Stachel, der sich immer dann ein wenig tiefer in sein Fleisch schob, wenn ihm bewusst wurde, dass er niemals wirkliche Freunde in dieser Welt finden würde. Denn für eine Freundschaft brauchte man Vertrauen, und ihn umgab von nun an ein Geheimnis, das er mit niemandem teilen konnte, ohne auf Enttäuschung und Unverständnis zu stoßen.
Langsam bewegte er die Träne Olvryons zwischen seinen Fingern. Für gewöhnlich trug er sie an einer Kette um den Hals, doch nun hatte er sie die ganze Nacht über in den Händen gehalten und das Bild betrachtet, das sie zeigte: ihn selbst, fliegend oder fallend. Er hatte seine Entscheidung getroffen, eine Entscheidung, die keine war. Er konnte den Teufel nicht bezwingen, ganz gleich, mit welcher Wunderwaffe er zu ihm hinab in die Hölle steigen würde, und er durfte nicht das Risiko eingehen, die Welt in den Abgrund zu
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