Nephilim
reißen, wenn er – was unvermeidlich war – scheitern sollte. Aldros’ Gesicht stand ihm vor Augen, dieses freundliche, sanfte Gesicht mit den dunklen Augen, und er sah wieder die Feuersbrunst, die der einstige Teufelssohn über Bantoryn gebracht hatte.
»Genießt du die Aussicht?«
Nando schrak so heftig zusammen, dass er sich den Arm am Brückengeländer stieß. Er hatte niemanden kommen hören, doch Noemi stand so dicht neben ihm, dass ihr Haar seine Hand streifte, als der Wind ihr in den Nacken fuhr. Sie stützte sich neben ihn auf die Brüstung, die Andeutung eines Lächelns lag auf ihren Lippen. »Und ich dachte, dass ich die Einzige wäre, die bei diesem Wetter auf Dächern und Brücken herumsteht.«
Nando öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch auf einmal war sein Kopf wie leergefegt. Er zuckte die Schultern, aber Noemi schien gar keine andere Reaktion zu erwarten. Sie lehnte sich weit über das Geländer, ihr Haar peitschte wie ein flatterndes Tuch über ihren Rücken. Für einen Moment musste Nando an einen Raben mit seltsamen Augen denken, als er sie ansah, und er hätte sich kaum gewundert, wenn sie auf einmal die Gestalt gewechselt und davongeflogen wäre. Eine samtene Röte war in ihre Wangen gestiegen, als sie sich ihm wieder zuwandte und ihr Blick auf Olvryons Träne fiel.
»Trägst du sie immer bei dir?«, fragte sie ernst, und er nickte.
Langsam drehte er die Träne zwischen seinen Fingern und spürte wieder die Dunkelheit, die ihn während seiner Prüfung beim Blick in die Augen des Ovo umfangen hatte – und die tiefe Ruhe und Freude, als er zwischen den Extremen gehalten wurde durch den Herzschlag der Welt.
Noemi sah ihn an, ruhig und unverwandt, und in ihrem Schweigen lag etwas, das ihn Atem holen ließ. »Eines frage ich mich immer wieder«, sagte er leise. »Dachte Olvryon, dass ich ihn verwundet habe? Der Dolch ist direkt an mir vorbeigeflogen, möglicherweise hat er Paolo gar nicht wahrgenommen. Hat er geglaubt, dass ich es war, der ihn getötet hat?«
Ein kaum merkliches Lächeln huschte über Noemis Gesicht. »Du bist eben doch noch ein Oberweltler«, erwiderte sie sanft. »Der Tod ist etwas, das du niemals begreifen wirst. Und der Tod eines Ovo ist es noch mehr. Du hast um einen Ovo geweint, du hast geweint um die Seele der Schattenwelt. Und Ovo fühlen unsere Tränen. Olvryon wird wissen, dass du es nicht gewesen bist.«
Nando zog die Brauen zusammen. »Ich glaube nicht, dass er jetzt noch etwas wissen kann. Schließlich ist er … «
Doch Noemi schüttelte den Kopf. »Nein. Olvryon ist nicht tot.« Nando fuhr zusammen, so überrascht war er, und Noemi lachte leise. »Diese Träne ist ein Symbol für das Band, das ihr geknüpft habt. Du hast ihm das Leben gerettet, Nando, denn du hast um ihn geweint. Eines Tages wird er dir dafür danken, dessen kannst du gewiss sein. Es ist nicht leicht, die Freundschaft eines Ovo zu erlangen.«
Nandos Blick fiel auf die Träne in seinen Händen, und er musste tief Atem holen, so stark durchströmte ihn das Glücksgefühl bei dem Gedanken daran, dass Olvryon noch lebte.
»Ja«, sagte Noemi und betrachtete ihn nachdenklich. »Du bist ein Oberwelter. Aber gleichzeitig bist du ein Teil der Schattenwelt geworden, vielleicht stärker, als es dir bewusst ist.«
Nando nickte und betrachtete sich selbst in Olvryons Träne. Der Herrscher der Ovo hatte in seine Seele geschaut, er hatte ihn in der Schattenwelt willkommen geheißen. Ob auch er die Hoffnung gehabt hatte, dass der Teufelssohn die Verfolgung der Nephilim ein für alle Mal beenden würde?
»Du bist nicht grundlos hierheraus gekommen«, stellte sie fest, und als er den Kopf wandte und sie ansah, wusste er, dass er sie nicht belügen konnte. Ihr Blick glitt durch ihn hindurch wie der Wind durch seinen Mantel und vereitelte jede Flucht sofort.
»Antonio hat mir etwas erzählt«, sagte er kaum hörbar. »Ich darf nicht darüber sprechen, aber … Das, was er mir sagte, verändert alles. Ich stehe vor einer Aufgabe, die nur ich erfüllen könnte, aber ich weiß, dass ich es nicht schaffen werde, ganz gleich, wie sehr ich es auch versuche, und … « Er brach ab, denn ein Lächeln legte sich auf Noemis Lippen, das jedes Wort von seiner Zunge wischte wie ein vertrocknetes Insekt.
Er hat dir von dem Schwert erzählt , sagte sie in Gedanken, und obgleich ihre Worte kaum wahrnehmbar gewesen waren, taumelte Nando rückwärts, als hätte ihn ein Schlag getroffen. Er hat dir gesagt, dass du
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