Nephilim
lachte auf, er konnte nicht anders. Avartos’ Worte erschienen ihm so absurd, dass er kurz glaubte zu träumen. Doch der Engel musterte ihn kühl, und als der Mond hinter zwei Wolken hervorbrach und seinen Schein wie ein Tuch aus schimmernder Seide auf Nandos Schläfen legte, wusste er, dass alles wirklich geschah. Ein Schauer flog über seinen Rücken, als er die Entschlossenheit in Avartos’ Augen bemerkte und den ungewohnten Ausdruck darin, der jede Ablehnung vermissen ließ, die sonst die Züge des Engels bestimmt hatte.
»Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt«, versetzte Avartos und hob stolz den Kopf. »Ich bin ein Engel, ein Geschöpf aus Sehnsucht und Eis. Ich habe die Schlange von Bagdad mit bloßen Händen zerrissen und die Ghule der Wälder im Norden gelehrt, was Furcht bedeutet. Ich bin in die Ruinen unter Moskau hinabgestiegen, um den Lindwurm zu jagen, und ich habe den Kopf des letzten Basilisken der lichten Welt mit einem einzigen Hieb von dessen Leib getrennt. Für mein Volk habe ich das getan, und das alles nur aus einem einzigen Grund: da ich ein Krieger und ein Jäger bin. Du wirst meine Hilfe brauchen können, um die Gefangenen zu befreien – nun, da Antonio uns verlassen hat.«
Nando schrak zusammen, vielleicht wegen des Namens seines Mentors, der ihm sanft durch die Haare strich, oder wegen des verwundbaren Ausdrucks in Avartos’ Augen, und er wusste, dass nicht nur er in diesem Moment Antonios Worte hörte, jene Worte, die er einst zu Avartos gesprochen hatte. Weil sie dir Antwort geben, dir oder dem jämmerlichen Rest jener Wahrheit, die du in dir verbirgst, weil sie alles vernichten könnte, was du bist. Eines Tages, das steht außer Zweifel, wirst du sie erkennen, und du wirst sehen, dass dein größter Wert mehr ist als die Kälte deines Geistes und Augen aus Gold und Farben.
Vor ihm stand Avartos, der Krieger, der Engel, der ihm nach dem Leben getrachtet hatte und an dessen Händen das Blut klebte von unzähligen Nephilim. Doch Avartos war in den Abgrund in seinem Inneren gefallen, mehr noch – er war selbst hineingesprungen. Nando erinnerte sich daran, wie er seine Hand zurückgezogen hatte, wie er beschlossen hatte, Avartos nicht zu töten, und daran, dass ihm nicht vollständig bewusst gewesen war, warum er diese Entscheidung getroffen hatte. Noch immer wusste er darauf keine Antwort, und dieselbe Unsicherheit, dasselbe Erstaunen und Zögern sah er nun in den Zügen des Engels. Er spürte noch einmal Avartos’ Herzschlag, als würde gerade in diesem Moment erneut ein Heilungszauber über seine Lippen kommen, und er sah, wie goldene Funken die Dunkelheit im Blick des Engels durchbrachen. Langsam holte er Atem. Er hatte Avartos gefürchtet, ja, er fürchtete ihn noch immer – und doch sagte er die Wahrheit, das spürte er ohne jeden Zweifel, und er würde nichts mehr tun, das Nando schaden könnte.
Für einen Moment schwiegen sie beide, und als Nando zum Zeichen seiner Zustimmung den Kopf neigte, senkte sich eine samtene, fast friedliche Stille über sie.
»Du darfst Bhrorok nicht sofort gegenübertreten, wenn wir nach Bantoryn hinabsteigen«, sagte Avartos dann. »Zuvor müssen wir ihn schwächen, wir müssen ihn verwunden, damit du eine Chance hast gegen ihn. Ansonsten würde er dich zwischen den Fingern zerquetschen, er ist das Böse in Person, und du … du kannst noch nicht einmal aus eigener Kraft fliegen.«
Nando holte tief Atem. Er schaute Avartos nicht an, als er näher an den Rand des Daches herantrat. Stattdessen sah er Antonio vor sich, der sich grazil auf der Brüstung vor- und zurückbewegte und ihn zu sich heranwinkte wie damals. Doch dieses Mal schüttelte Nando nicht den Kopf. Er sah zu, wie Antonio innehielt, die Position eines Tänzers einnahm, Standbein und Spielbein gekreuzt, und die Arme auf dem Rücken verschränkte, und er sprach die Worte aus, die lautlos über Antonios Lippen kamen.
»Das wirklich Böse ist die Furcht. Nichts hat gerade über die Menschen so große Macht wie sie.«
Er spürte Avartos’ erstaunten Blick kaum, als er sich mit klopfendem Herzen auf die Brüstung schwang. Er betrachtete die Dunkelheit direkt vor sich, jene Finsternis, in die Antonio damals getreten war, griff sich an die Brust und streifte den Harnisch ab, der mit klirrendem Geräusch zu Boden glitt. Kühl strich der Nachtwind über seine Brust. Er sah Antonio in der Dunkelheit, sah, wie der Engel ihn anschaute – regungslos, als blickte er durch ein Fenster aus
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