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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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Im selben Moment setzte sein eigener Herzschlag aus, unnennbarer Schmerz durchzog seine Brust, doch er rührte sich nicht. Er saß einfach da, Tränen liefen über seine Wangen, und er ließ die Nebel des Engels über sein Gesicht streichen wie eine letzte Berührung. Dann kehrte der Herzschlag der Welt zurück, Nando spürte wieder sein Blut in den Adern, doch die Töne erschienen ihm so laut, als würden sie ihn innerlich zerreißen wollen, und er konnte ihn kaum ertragen: den Klang des Lebens.
    Nando wusste nicht, wie lange er neben Antonios Nebelleib gesessen hatte, als er plötzlich ein Geräusch hörte, ein Geräusch direkt hinter sich. Erschrocken fuhr er herum, er sah in Avartos’ Gesicht, doch er konnte sich nicht rühren, es war, als wäre er zu Stein erstarrt. Avartos streckte die Hand aus, Nando glaubte, von einem glühenden Speer zerrissen zu werden, doch da erkannte er die Pfeile auf dem Rücken des Engels. Sie waren schwarz, für einen Augenblick sah Nando Bhrorok vor sich, wie er von einem solchen Geschoss zurückgeschleudert wurde. Gleich darauf zog der Engel ihn auf die Beine. Nando starrte ihm in seine goldenen Augen, doch Avartos war nicht gekommen, um ihn zu töten. Er war gekommen, um ihn zum zweiten Mal zu retten.
    Erst in diesem Moment hörte Nando die Dämonen, die mit kreischenden Stimmen auf sie zujagten. Avartos griff nach seinem Bogen, doch er konnte die Wellen der Angreifer nicht bezwingen. Nando holte Atem für einen Zauber, als er sah, wie sich Antonios Nebel aufbäumte. Flüchtig strich er ihm durchs Haar. Dann stob er durch das Mohnfeld auf die Dämonen zu, der rote Staub der Blüten wirbelte auf und stürzte sich als gewaltiger Sturmwind auf sie. Nando hörte sie schreien, der Mohn Bantoryns verätzte ihre Gesichter und zwang sie zu Boden.
    Im nächsten Moment fühlte er sich von Avartos gepackt. Gemeinsam rasten sie auf den Riss in der Decke zu, den einzigen Ausweg, den sie zusammen nehmen konnten. Nando warf einen Blick zurück auf das Mohnfeld, er fühlte den Wind Bantoryns in seinem Haar, und er sah Antonio, wie er über die gefallenen Dämonen hinwegzog und im Nebel der Ovo aufging. Niemals, das wusste Nando, würde er dieses Bild vergessen.

47
    Nando erwachte von einem Duft. Es war eine seltsame Mischung aus Schnee und Sonnenlicht, die ihn langsam aus seiner Ohnmacht rief. Er hörte den Straßenverkehr der Menschenwelt und spürte die Helligkeit des Mondes auf seiner Haut.
    Mühsam öffnete er die Augen, seine Schläfen pochten unter einem stechenden Kopfschmerz. Er lag auf einem Hausdach in der Nähe des Orto Botanico, die Schiefersplitter der regennassen Dachpappe bohrten sich in seine Wange. Rings um den Rand des Daches flammten winzige weiße Flämmchen, und dort, mit dem Rücken an einen Schornstein gelehnt, saß ein Engel und schaute mit wachsamen Augen über die Stadt.
    Für einen Moment meinte Nando, Antonio zu sehen wie damals, als er vor der Entscheidung gestanden hatte, mit seinem Mentor in die Unterwelt zu gehen. Sein Herz schlug schneller. Er griff nach dem Glücksgefühl in seiner Brust, nach der Wärme, die ihn bei dieser Vorstellung durchströmte, doch schon glitt sie ihm durch die Finger und wurde von der Kälte des Schreckens abgelöst, als er das Gesicht des Engels erkannte.
    Avartos war es, der regungslos ganz in seiner Nähe saß, Avartos, der Engelskrieger, der ihn gejagt hatte und dessen oberstes Ziel es in den letzten Monaten gewesen war, ihn zu töten. Nun schaute er wie eine steinerne Statue über die Dächer Roms, scheinbar gelassen und mit diesem Ausdruck in den Augen, den Nando auch bei Antonio häufig gesehen hatte – dieser Mischung aus Sehnsucht und Schmerz, nachlässig verdeckt von einer kalten Maske der Gleichgültigkeit.
    Nandos Blick glitt über das ebenmäßige Antlitz des Engels, über seine blutbesudelte Kleidung und das Schwert, auf dessen Knauf Avartos’ Hand ruhte, als würde er es jeden Moment ziehen und gegen ein mögliches Opfer führen wollen. Nando erinnerte sich gut daran, wie der Engel im Forum Romanum auf ihn zugetreten war, wie Silas ihn vor seiner Kälte bewahrt hatte, und er spürte wieder den Schrecken in seinen Gliedern beim Anblick des reglosen Engelsgesichts. Doch gleich darauf dachte er an Bhrorok, sah ihn noch einmal von einem schwarzen Pfeil getroffen rückwärts taumeln, und er spürte wieder den Griff des Engels an seinem Arm, als dieser ihn im Mohnfeld mit sich gezogen hatte. Gemeinsam waren sie abgetaucht in

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