Nephilim
an dessen Schläfen.
Doch frage dich, Engel höchsten Ranges, drang auf einmal Antonios Stimme durch Nandos Kopf. Er schrak zusammen, das Atmen fiel ihm schwer, so vertraut durchzogen ihn diese Worte, und er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass Avartos ihn an seinen Gedanken teilhaben ließ. Diese Worte hatte Antonio zu ihm gesprochen, damals im Dorf der Varja, als er Avartos zu Nandos Überraschung nicht getötet hatte. Was in dir ist es, das dir diesen Rang verleiht? Was ist es, das dich von jenen in der Hölle unterscheidet? Was ist es, das dich am Leben hält in den dunklen Nächten in der Kälte deines Geistes? Warum beschützt du die Menschen?
Avartos holte tief Atem, und Nando schien es, als würde er diese Geste zum ersten Mal bei dem Engel wahrnehmen, der plötzlich so jung und verwundbar wirkte, als würde er ohne Waffen dastehen und ohne jeglichen Schutz.
»Ich habe mir diese Frage nie gestellt«, sagte er leise. »Ich habe niemals Zweifel gehabt an dem Weg, den ich gegangen bin – bis zu dem Moment, da der Teufelssohn mir das Leben rettete. Der Moment war wie ein Spiegel. Noch weiß ich nicht, wohin ich mich wenden soll in der Dunkelheit, in die er mich gestoßen hat. Doch eines weiß ich sicher: dass es keinen Weg zurück gibt, wenn man einmal hineingesehen hat.«
Nando dachte daran, wie er seine Hand an die Schläfe des tödlich verwundeten Engels gelegt hatte, an die eiskalte Haut unter seinen Fingern und an die Bilder, die durch Avartos’ Augen geflackert waren wie Erinnerungen aus einem anderen Leben. Er erinnerte sich an die Gestalt der Frau, an den Schnee auf frisch geschlossenen Gräbern und an die Kälte, die über ihn gekommen war beim Anblick des sterbenden Engels. Und wieder spürte er die Furcht, die in Avartos aufwallte. Du bist ein Engel – und jede Träne bringt dich den Schatten näher, die in dir lauern! Nando spürte die Angst davor, den Sturm und die Finsternis im eigenen Inneren zu ertragen – und dann die Entscheidung für diesen Schritt, auch wenn das Kampf bedeutete und Schwäche und Einsamkeit.
Langsam trat er neben Avartos an den Rand des Daches. Es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen, und kaum dass er den Blick von dem Engel abgewandt hatte, rasten Erinnerungen durch seine Gedanken, Bilder von der brennenden Stadt Bantoryn, von den Dämonen, die wie aus dem Schlund der Hölle gebrochen waren, und von den Engeln, wie sie in Scharen die Nephilim gejagt und getötet hatten. Viele waren entkommen und hatten es womöglich bis in die Rote Höhle geschafft, jenen Ort, der in den Brak’ Az’ghur lag und den Bewohnern Bantoryns seit jeher als Schutzraum in Notfällen diente. Nandos Magen zog sich zusammen, als er an Noemi dachte, und er ballte die Hände zu Fäusten.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Avartos, dem diese Geste nicht entgangen war.
Nando schwieg für einen Moment. Er ließ die Kälte der Luft in seine Lunge strömen und drängte den Zorn zurück, der hinter seiner Stirn aufglomm, als er an Bhrorok dachte und an das flammende Zeichen auf Noemis Stirn. Nur der Tod kann einen solchen Bund zerbrechen , raunte Antonios Stimme durch seine Gedanken, und Nando nickte kaum merklich. Bhrorok war von niemandem zu bezwingen, von niemandem als dem Teufel selbst – oder seinem Sohn. Er würde Noemi, Kaya und die anderen nicht den Dämonen überlassen. Er würde Bhrorok besiegen, um sie zu befreien.
»Die Bewohner Bantoryns, die überlebt haben, werden alles daransetzen, um die Gefangenen zu befreien«, erwiderte er ruhig. »Und ich werde ihnen dabei helfen. Ich werde in die Unterwelt gehen, ich werde Bhrorok bezwingen und die retten, die meinetwegen in seinen Klauen liegen.«
Da stieß Avartos die Luft aus. »Unsinn«, erwiderte er. »Du bist Bhrorok noch nicht gewachsen. Du … «
Doch Nando schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen anderen Weg. Ich habe einen Eid geschworen, die Nephilim Bantoryns zu beschützen, ich bin ein Krieger der Schatten, und ich werde tun, was ich kann, um die Gefangenen zu befreien. Niemand außer mir kann Bhrorok bezwingen, denn er ist ein Geschöpf der Hölle – und nur die Kraft, die ihn erschuf, kann ihn vernichten. Die Kraft, die ich in mir trage.«
Er sah Avartos an, und für einen Moment wich die Abwehr auf dessen Zügen einem kaum merklichen Schimmer. Achtung schlich sich auf das Gesicht des Engels, eine Regung, die Nando so fremd erschien, dass er lächeln musste.
»Dann gehe ich mit dir«, sagte Avartos ruhig.
Nando
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