Nephilim
die Dunkelheit der Brak’ Az’ghur, und Avartos hatte ihn in Sicherheit gebracht – in die Welt der Menschen.
Nando wollte sich aufrichten, doch sofort schoss ein heftiger Schmerz in seinen Nacken und ließ ihn stöhnen. Avartos kam auf die Beine, so lautlos und schnell, dass Nando den Arm emporriss und einen Flammenzauber in seine Faust schickte. Entschlossen sah er den Engel an, der abrupt stehen blieb, und stemmte sich rücklings an dem Schornstein hoch, neben dem er gelegen hatte. Ein belustigtes Flackern glitt über Avartos’ Gesicht, doch Nando beachtete es nicht. Er drängte jeden Anflug von Furcht, jede Verwirrung und Unsicherheit hinter die Maske des Kriegers zurück, der Bantoryn würdig war, und richtete seine Faust auf die Stirn des Engels.
»Was willst du von mir?«, fragte er und bemühte sich nicht, die Kälte in seiner Stimme zu unterdrücken.
Mit dieser Reaktion hatte Avartos offensichtlich nicht gerechnet. Verächtlich hob er die Brauen, als wäre er für gewöhnlich derjenige, der die Fragen stellte, und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich habe dir das Leben gerettet«, stellte er fest. »Du … «
»Warum?«
Der Engel war es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden, das konnte Nando sehen. Zorn flammte in seinen Augen auf, ehe er die Luft ausstieß, langsam und geduldig, als wäre Nando ein ungezogener Hund, und schüttelte mit mildem Lächeln den Kopf. »Weil ich es so beschlossen habe. Du magst der Sohn des Teufels sein, aber noch zerquetscht dich jeder mittelmäßig begabte Dämon zwischen zwei Fingern, und genau das wäre passiert, wenn ich nicht gekommen wäre. Die Schergen Luzifers hätten dir die Kraft geraubt und ihren Fürsten befreit. Das konnte ich nicht zulassen.«
»Und warum hast du mich nicht getötet?« Die Worte brachen wie Gewehrsalven über Nandos Lippen. »Noch vor Kurzem hast du selbst alles darangesetzt, mich höchstpersönlich ins Jenseits zu befördern! Warum tötest du mich nicht, warum stehst du hier bei mir auf einem regennassen Dach und tust so, als wären dein Hass und deine Abscheu vor mir, dem Teufelssohn, nichts als Illusionen gewesen?«
Avartos musterte ihn für einen Moment, sein Gesicht verlor den höhnischen Schatten, der sich um seine Augen gelegt hatte. »Ich bin ein Engel«, erwiderte er kaum hörbar. »Hass und Abscheu sind Empfindungen, denen ich mich nicht hingebe, ein Umstand, den du wohl nie begreifen wirst. Wir Engel sind Geschöpfe des Lichts, Menschensohn, Kreaturen der Ehre, und … «
»Ich habe gesehen, was ihr mit den Nephilim gemacht habt«, erwiderte Nando kalt. »Ich habe die Chroniken Bantoryns gelesen, ich kenne die Bilder der Verfolgung, und ich habe Silas’ Hand gehalten, während er starb. Sprich nicht von Ehre, Sklave des Lichts!«
Die letzten Worte glitten zischend durch die Luft und hieben nach Avartos’ Wange, sodass er zurückfuhr. Nando sah den Schrecken, der über das Gesicht des Engels flammte, doch er ließ sich nicht davon täuschen. Mit ausgestreckter Hand ging er auf Avartos zu, er merkte kaum, wie der Engel vor ihm zurückwich.
»Ich mag ein Nephilim sein«, sagte Nando und spürte seinen Puls in den Schläfen. »Ich mag schwach sein und unwissend, und vermutlich hätten mich die Dämonen der Hölle tatsächlich in der Luft zerrissen, wenn du nicht gekommen wärest. Aber ich lasse mich nicht zum Narren halten! Du hast mir das Leben gerettet! Warum?«
Avartos stieß mit dem Rücken gegen die Brüstung des Daches, das Gold seiner Augen flammte auf.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er, und in diesem Moment zerbrach die Maske aus Eis vor seinem Gesicht. Dahinter lag Verwunderung, Furcht und Zerrissenheit, aber auch eine Hilflosigkeit, die Nando erschütterte, und obgleich er wusste, wer da vor ihm stand, obgleich die Bilder des strahlenden Engelskriegers Avartos deutlich vor seinem inneren Auge aufflammten, ließ er die Hand mit seinem Zauber sinken. Er fühlte die Verzweiflung, die in diesen Worten lag, aber er spürte auch die Stärke, die ihnen entsprang und die in der Entscheidung wurzelte, einen vertrauten Weg zu verlassen und kopfüber in die Dunkelheit zu stürzen.
Da wandte Avartos sich ab. Er schaute über die Stadt, als wollte er jedes Licht, jeden Schein des Mondes und jede menschliche Stimme in sich aufsaugen. Seine Hände ruhten auf der Brüstung, kurz gruben sie sich in den Stein wie in weiche Butter. Nando spürte den Kampf, den Avartos in seinem Inneren ausfocht, und er sah das Muskelspiel
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