Nephilim
…
»Ich höre deinen Herzschlag wie eine Blaskapelle in meinem Kopf«, sagte Avartos ruhig. Erstaunt sah Nando ihn an, doch der Engel schaute die Gasse hinab, als erwartete er jeden Augenblick einen Angriff aus einem der Häuser. »Du musst lernen, deine Gefühle zu kontrollieren. Du verlierst deine Konzentration, wenn du das nicht tust, und fehlende Achtsamkeit kann dich das Leben kosten.«
Nando verdrehte die Augen. Antonio und Drengur hatten ihm des Öfteren Ähnliches gesagt. »Das ist nicht leicht, wenn man sich um seine Freunde sorgt.«
»Freunde«, sagte Avartos leise, und es klang, als hätte er dieses Wort bisher selten ausgesprochen. »Deine Sorgen werden ihnen nicht helfen. Deine Taten sind es, die zählen. Du bist kein Tellerwäscher mehr, vergiss das nicht. Du darfst dich nicht in die Irre führen lassen von deinen Emotionen. Bewahre einen kühlen Kopf, das rate ich dir. Du wirst ihn brauchen, wenn du den Weg eines Kriegers gehen willst.«
Nando betrachtete Avartos von der Seite. Die Haare des Engels schimmerten leicht im Zwielicht, und durch seinen lautlosen Gang schien es fast, als würde er schweben. »Der Weg eines Kriegers«, sagte er nachdenklich. »Als ich Antonio zum ersten Mal begegnet bin, da habe ich nicht so sehr darauf geachtet, dass er eine düstere Gestalt war, die bedrohlich und unheimlich wirkte – nicht sofort jedenfalls. Das Erste, das ich wahrnahm, war der Duft des Mohns, der vor den Toren Bantoryns wächst. Und noch immer ist es dieser Duft, den ich mit Antonio verbinde und der mir jede Erinnerung an ihn zurückbringt.« Er hielt kurz inne. »Es mag dir merkwürdig erscheinen«, fuhr er dann fort, und ein schwaches Lächeln glitt über seine Lippen. »Aber ich glaube, dass ich beides sein möchte: ein Tellerwäscher und ein Krieger. Glaubst du, dass das möglich wäre?«
Da wandte Avartos den Blick. Erstaunen flammte in seinen Augen auf. Er öffnete den Mund, und Nando meinte bereits, die abgeklärten Worte zu hören, die sich auf die Zunge des Engels stahlen, als Avartos leicht den Kopf neigte. Eindringlich sah er Nando an, als wäre dieser ein Gemälde, dessen Maltechnik er noch nicht durchdrungen hatte, schob dann das Kinn vor und nickte langsam. »Vielleicht«, erwiderte er leise. Und kaum merklich lächelte er.
Dieses Lächeln schmolz die Maske von seinen Zügen, und Nando wollte gerade etwas erwidern, als er den Speer sah, der zischend auf sie zuraste. Mit einem Schrei hob er den Arm, um die Waffe mit einem Zauber abzuwehren, doch schon streckte Avartos die Hand aus und fing den Speer noch im Flug. Knisternd brachen Flammen zwischen seinen Fingern hervor – und die Waffe verkohlte binnen weniger Augenblicke zu Asche.
Nando kam nicht dazu, einen Ton hervorzubringen, denn schon stürzte sich eine Gestalt aus der Dunkelheit zwischen zwei Häusernischen und schleuderte eine glühende Peitsche auf Avartos. Sofort packte der Engel die Peitsche und riss sie zu sich heran. Seine Bewegungen waren so schnell, dass Nando sie kaum verfolgen konnte, doch er sah, wie Avartos die Peitsche zu Boden warf, eine Gestalt an der Kehle packte und sie gegen die nächste Hauswand drückte. Es war ein Nephilim, der ihn angegriffen hatte – ein Nephilim mit dunklem, lockigen Haar und braunen Augen.
»Riccardo!«, rief Nando und eilte zu ihnen, doch keiner der beiden schien ihn zu hören. Sie starrten sich an, feindselig und mit einer Kälte in den Augen, die ihre Gesichter in zwei Fratzen verwandelte. Frostzauber drangen aus den Fingern des Engels, schon überzog sich Riccardos Brust mit Kristallen aus Eis. Da legte Nando die Hand auf Avartos’ Arm. »Er ist ein Freund«, sagte er eindringlich, und nach kurzem Zögern nahm der Engel die Hand zurück.
Riccardo landete auf dem Boden, hustend kam er auf die Beine und ließ sich von Nando stützen. »Er ist ein Engel!«, keuchte er außer sich und deutete mit zitternder Hand auf Avartos, der ihn seelenruhig und mit abfälligem Blick betrachtete.
»Es ist doch immer wieder erstaunlich, welche Klugheit aus den Reihen deines Volkes geboren wird«, stellte der Engel an Nando gewandt fest, doch dieser achtete nicht auf ihn.
»Er hat mir das Leben gerettet«, sagte er zu Riccardo, der ungläubig die Augen aufriss. »Mir und Antonio. Bhrorok hätte uns beide erschlagen, wenn Avartos nicht gekommen wäre, und … Ich kann ihm vertrauen, Riccardo – wir alle können das.«
Misstrauisch warf Riccardo Avartos einen Blick zu, doch Nando konnte sehen,
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