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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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einer anderen Welt. Dieser Engel hatte an ihn geglaubt, mehr als das: Er war für ihn gestorben.
    Unsere Entscheidungen machen uns zu dem, was wir sind , flüsterte Nando in Gedanken.Dann verbeugte er sich, fixierte den Engel mit seinem Blick – und trat in den Abgrund.
    Er schrie auf, der Wind riss an seinem Haar und seiner Kleidung, und er schlug die Arme vor sein Gesicht, um einen Sturz abzufangen. Du fliegst nicht aus eigener Kraft, weil du Angst hast zu fallen, raunte Antonios Stimme durch seine Gedanken, und als hätten die Worte des Engels eine Fessel um seinen Körper gesprengt, warf Nando den Kopf in den Nacken, spannte die Schwingen – und er fiel nicht. Tränen strömten über seine Wangen, als er über die Dächer Roms dahinjagte, während das Licht Nhor’ Kharadhins und die Schatten der Gassen sich vereinten. Sie pulsten durch seine Glieder, sie waren sein Herzschlag und sein Atem, und als er sie durchdrang und Teil der Welt wurde, der er immer schon gewesen war, schrie er noch einmal. Doch dieses Mal war es ein Schrei der Befreiung und der Freude, ein Schrei, der seine Lunge zum Brennen brachte und ihn zur gleichen Zeit weinen und lachen ließ, während er durch die Schleier aus Licht und Farben tauchte, mit dem Wind in seinen Haaren. Die Kraft der Welt durchströmte ihn, diese Macht, die er erst begriffen hatte, als Antonio für ihn gestorben war – jene Stärke, die jede Teufelsmacht der Welt bezwingen konnte. Eines Tages wirst du ihr einen Namen geben, flüsterte Antonio, und Nando hörte, dass er lächelte. Dessen sei gewiss.

48
    Schwaden aus Asche stoben über das Pflaster wie Geisterhorden. Kalt fegte der Wind um die Ecken, und das fahle Licht der Häuser, die sich zu beiden Seiten der Gassen auftürmten, tauchte die Brak’ Az’ghur in düsteres Zwielicht.
    Mit angezogenen Schultern ging Nando neben Avartos die Gänge hinab. Der Engel bewegte sich vollkommen lautlos, den Körper in seinen dunklen Umhang gehüllt, der ihn mit den Schatten der Umgebung verschmolz. Er hielt ziemlich genau eine Armlänge Abstand zu Nando, und dieser stellte zu seinem Erstaunen fest, dass Avartos diese Distanz instinktiv zu wahren schien: Näherte Nando sich ihm nur um wenige Fingerbreit, entfernte der Engel sich von ihm, als gälte es, den vorherigen Abstand zwischen ihnen wiederherzustellen. Sie hatten kaum ein Wort mehr miteinander gesprochen, seit sie in die Unterwelt zurückgekehrt waren, und doch herrschte eine stille Übereinkunft in dem, was nun zu tun war, die Nando Sicherheit gab inmitten der Dunkelheit.
    Er erinnerte sich gut daran, wie er die Brak’ Az’ghur erstmals betreten hatte. Argwöhnisch hatte er in Giorgios Taxi gesessen, die Augen weit aufgerissen beim Anblick der verzweigten Wege, der Glutbäume und der schemenhaften Gestalten, die hin und wieder hinter einem der Fenster aufgetaucht waren. Er hatte Angst gehabt, ohne jeden Zweifel, doch nun erschien ihm diese Furcht wie eine ferne Erinnerung. Die Schatten waren für ihn zu Vertrauten geworden, zu Freunden, die ihn in ihre Dunkelheit hüllten und ihn vor feindlichen Augen verbargen. Nie hätte er damals geglaubt, bei dem Anblick der Hexen und Nekromanten hinter den Fenstern der heruntergekommenen Häuser einmal etwas anderes zu empfinden als Furcht oder Misstrauen, doch nun erschienen ihm ihre Gesichter beinahe vertraut. Vereinzelt fing er einen Blick aus zwei aufglimmenden Augen auf, sah eine struppige Katze im Fensterrahmen sitzen und bemerkte ein Wispern, das fast lautlos über das Pflaster strich. Die Bewohner der Brak’ Az’ghur hatten vom Fall Bantoryns gehört, und es war, als würden ihre Häuser Trauer tragen, als wollten sie durch ihr Schweigen und dadurch, dass keiner von ihnen auf die Straße trat, der Stadt jenseits des Lichts gedenken.
    Nandos Unruhe nahm zu, je näher sie der Roten Höhle kamen. Es war still, so still in den Gängen der Schatten, und es fiel ihm zunehmend schwerer, die Fragen in sich zurückzudrängen, die quälend von innen gegen seine Stirn klopften. Immer wieder sah er die Nephilim durch die Portale fliehen, sah ihre entsetzten, fassungslosen Gesichter und die Hilflosigkeit in ihren Blicken. Was, wenn sie sich in ihrer Panik zerstreut hatten, wenn sie geflohen waren, so weit ihre Schwingen sie getragen hatten? Was, wenn sie sich fürchteten, die Rote Höhle aufzusuchen, oder wenn sie den Dämonen in die Klauen geraten waren oder den Engeln? Was, wenn sie die Regeln Bantoryns vergessen hatten, und

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