Nephilim
ist gefallen, Nando, und es scheint so … « Riccardo holte tief Atem, ein Schatten flackerte über sein Gesicht und sammelte sich in seinen Augen, bis sie aussahen wie reglose Seen. »Es scheint so, als wären die Bewohner der Stadt mit in den Abgrund gestürzt. Es ist besser, wenn du darauf vorbereitet bist.«
Noch nie zuvor hatte Nando einen solchen Ausdruck auf Riccardos Zügen gesehen, nie zuvor seine Stimme in diesem Widerhall aus Resignation und Schwäche gehört, und ein Schauer flog über seinen Rücken, als sein Freund den Zauber sprach und sie in die Rote Höhle eintraten.
Das Erste, was Nando wahrnahm, war der Geruch von Blut. Süßlich und metallisch lag er über zahllosen Zelten, hinter denen sich Heiler und Pfleger bewegten und Schattenrisse gegen die Planen warfen. Schleierartige Steinformationen unterteilten die Höhle in mehrere Bereiche, und Nando roch den scharfen Geruch von Desinfektionsmitteln und nahm die Impulse der Magie wahr, die für Operationen benötigt wurde, während er Riccardo folgte.
Es herrschte eine beklemmende Stille, die nur vereinzelt von Weinen oder erstickten Schreien unterbrochen wurde. Die metallenen Roboter von Morpheus eilten zwischen den Gängen hin und her und gingen ihrem Herrn ebenso zur Hand wie den zahlreichen Heilern. Viele Nephilim lagen mit kleineren Wunden auf schmalen Pritschen und warteten auf ihre Behandlung, andere hockten aschfahl und schweigend da wie unter einem Schock. Unzählige weitere saßen neben soeben Verstorbenen. Viele der toten Gesichter waren zu Fratzen entstellt und verfolgten Nando, sobald er sich von ihnen abgewandt hatte. Du bist nicht verantwortlich für unser aller Schicksal , ging Riccardos Stimme durch seine Gedanken, doch nun, da er zwischen den Verwundeten, den Sterbenden und den Trauernden hindurchging, nun, da er ihre Blicke auf seiner Haut fühlte, da spürte er, dass Riccardo sich irrte. Er trug die Verantwortung für die Nephilim, so wie er die Verantwortung für sich selbst trug und für all das, was Antonio ihn gelehrt hatte. Er ließ die Laute der Verwundeten durch sich hindurchziehen, während er an den Zelten vorüberging, und er wehrte sich nicht dagegen, dass die Stille der Toten sich in seinem Inneren festkrallte und Samen aussäte. Er musste sich davor bewahren, sie zu vergessen, und auch wenn er ihre Gesichter kaum ertrug, würde er sie dennoch mit sich nehmen – jedes einzelne von ihnen.
Er warf einen flüchtigen Blick zu Avartos hinüber, und obwohl er in der Finsternis unter der Kapuze nichts erkennen konnte, lag doch eine Sanftheit, eine Ehrfurcht und Anmut in seinen Bewegungen, die wie eine stille Andacht war und eine Buße für all das, was die Bewohner Bantoryns durch die Herrschaft der Engel erleiden mussten.
Sie gelangten in einen durch mehrere durchbrochene Steinschleier ein wenig vom Krankenbereich abgetrennten Raum der Höhle, in dem sich die Nephilim versammelt hatten, die keiner Behandlung bedurften. Der Bereich war gewaltig, er erstreckte sich über aufgeschüttete Hügel und Abhänge, und in einiger Entfernung erhob sich ein Podest, auf dem Nando die Senatoren der Stadt vermutete. Langsam schob er sich mit Avartos und Riccardo voran, ließ seinen Blick über die Anwesenden gleiten, sah Ilja in der Menge, die schlafend an der Schulter ihres Vaters lehnte, und viele andere vertraute Gesichter.
Riccardo erzählte ihm halblaut, dass Salados schwer verwundet worden war und Morpheus sich seit Stunden darum kümmerte, ihm das Leben zu retten, und er berichtete von einigen Novizen, die von den Engeln getötet worden waren. Bei jedem Namen flammte ein Gesicht in Nando auf, eine Stimme, ein Geruch, und als er das Podest der Senatoren erreichte und Drengur als Vorsitzenden neben seinem Panther Althos darauf erblickte, durchströmte ihn für einen Moment ein Gefühl der Erleichterung. Der Dämon war ins Gespräch vertieft, doch allein sein Anblick brachte Nando das Gefühl zurück, das er damals nach ihrem Gespräch auf dem Drachenplatz empfunden hatte, und er spürte die Stärke und Tapferkeit, die von Drengur ausging und jeden in seiner Nähe daran hinderte, sich in Schmerz und Traurigkeit zu verlieren. Und dennoch schien es Nando, als er sich neben Riccardo und Avartos niederließ, als würde er in einem Morast der Stille versinken, einem Sumpf aus erschöpfter Resignation, der ihm das Atmen schwer machte. Er roch ihn ebenfalls, den Duft des Blutes, der aus dem Krankenlager herüberwehte, und er hörte sie
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