Nephilim
in die Höhle getragen wurden. Bantoryn wirkte aus der Ferne wie ein gewaltiger Scherenschnitt. Noch immer stiegen Rauchschwaden aus den Ruinen auf, und Nando presste die Zähne aufeinander, als er den eingestürzten Mal’vranon betrachtete und die unzähligen halb abgerissenen Brücken, die wie gebrochene Glieder von den Türmen hingen. Wie flüssiges Blei tanzte das Licht der Laternen über die Wellen des Schwarzen Flusses, als das Boot in die Stadt hineinfuhr.
Schattenhafte Gestalten glitten hier und dort durch die Gassen, er kannte die Straßenzüge Bantoryns, die Schwarze Brücke, die sich noch immer wie ein Saurierhals in der Höhe hielt, und die Häuser, die sich in diesem Teil der Stadt zusammenduckten wie tuschelnde Hexer. Und doch schien es ihm, als wäre er in eine andere Stadt geraten, eine Stadt, der man das Leben aus dem Leib gerissen hatte.
Keine Stimmen klangen durch die Straßen außer den rauen Rufen mancher Dämonen, kein Gesang drang aus den Häusern, und statt Gelächter und dem Trappeln von Schritten auf Asphalt durchzogen immer wieder lederne Schwingen die Luft. Grelle Scheinwerfer warfen vom Markt der Zwölf rote und grüne Lichter in die Dunkelheit, und zügellose Musik pulste über die Dächer zu Nando herab. Er sah hinauf zu den Ruinen der Akademie, sah die Überreste des Mal’vranons und das Theater, das noch immer auf dem Auswuchs des zerrissenen Turms ruhte, und ein Stechen ging durch seine Brust, als er an Antonio dachte und daran, was sein Mentor wohl bei diesem Anblick empfinden würde. Es schien ihm, als würde noch immer die Schlacht in den Gassen wüten, die Bantoryn niedergeworfen hatte, als würde jeder Ton dieser entfesselten Musik ihm ins Gesicht schlagen und unsichtbare Klauen in die alten Gemäuer graben. Er holte Atem, und da nahm er einen Duft wahr, einen Duft wie Schnee und Frühlingsahnen zugleich, und er spürte den flüsternden Wind auf seinen Wangen, der ihm den Staub des Mohns auf die Hände legte. Ein schwaches Lächeln zog über sein Gesicht. Noch war Bantoryns Atem nicht verstummt.
Lautlos glitt das Boot ans Ufer, als der Tarnzauber zerbrach. Der Schatten eines halb zerbrochenen Stalagmiten verbarg das Gefährt mitsamt den Passagieren, die rasch an Land kletterten. Die Kühle des Schattens legte sich auf Nandos Haut. Irgendwo klirrte Geschirr, Möbel gingen zu Bruch. Manche Dämonen schienen sich die Zeit damit zu vertreiben, Bantoryn noch stärkere Wunden zuzufügen. Nando richtete seinen Blick auf die schmale Gasse, die in Richtung Markt der Zwölf führte. Es würde nicht leicht werden, unbemerkt bis dorthin vorzudringen.
Salados wandte sich nicht zu ihnen um. Er gehörte zu den ältesten Bewohnern Bantoryns, er hatte ganze Viertel mit eigenen Händen erbaut und kannte sie wie seine Westentasche. Außerdem war er ein erfahrener Krieger und der General der Garde. Wenn es jemanden gab, der einen sicheren Weg zum Markt der Zwölf finden konnte, dann war er es. Regungslos verharrten sie in den Schatten, bis Salados ihnen ein Zeichen gab. So leise wie möglich liefen sie hinter ihm her, die schmale Gasse hinauf, die sie ins Schlangenviertel führen würde. Dies war nicht der direkte Weg zum Ziel, aber die schmalen, finsteren Straßen boten idealen Schutz vor Entdeckung. Das Labyrinth der Gassen in der Unterstadt erinnerte Nando einmal mehr an eine orientalische Medina, fast meinte er, jeden Augenblick den Duft von Räucherstäbchen wahrnehmen zu können. Doch die Häuser lagen verlassen, die Fassaden wirkten schattenhaft unter dem schwachen Schein vereinzelter Laternen, und immer wieder brachen einzelne, durch die Schlacht beschädigte Gebäude ganz oder teilweise in sich zusammen. Je näher sie dem Markt der Zwölf kamen, desto häufiger begegneten ihnen Dämonen, denen sie mit einem schnellen Sprung in eine Häusernische oder einem Tarnzauber entkommen mussten, und nicht nur einmal sprang Althos wie ein Schatten vor und packte einen Dämon an der Kehle, ehe dieser auch nur einen Laut von sich geben konnte. Über steile Treppen ging es, durch schmale Gassen und finstere Hinterhöfe, und Nando wünschte sich, einfach die Schwingen ausbreiten und fliegen zu können. Doch sie durften kein Risiko eingehen, und so eilten sie zu Fuß dahin und steigerten ihr Tempo, bis Nando im selben Rhythmus atmete wie die anderen. Der Gleichklang ihrer Schritte tat ihm gut, er konzentrierte sich auf seine Umgebung, auf die Arbeit seines Körpers und fühlte sich als Teil einer
Weitere Kostenlose Bücher