Nephilim
von den Säulen Bantoryns«, fuhr der Senator fort, und seine Stimme befreite sich von Heiserkeit und Verbitterung und klang ruhig und kraftvoll an jedes Ohr. »In den vergangenen Wochen war ich immer wieder kurz davor, unser Ideal zu verraten – aus Furcht, aus Schmerz, aus Zorn. Antonio hingegen hat es seit dem Beginn Bantoryns stets hochgehalten, er hat unsere Gemeinschaft geeint und uns stark gemacht als das, was wir sind: Nephilim – und mehr als das! Wir sind frei, wir gehen aufrecht, und wir lassen uns nicht bezwingen, von niemandem, auch nicht von unserer eigenen Furcht und Trauer! Antonio hat an Nando geglaubt, und er hatte recht! Dieser junge Nephilim dort unten hat die Engel zurückgeschlagen, er hat vielen von uns das Leben gerettet! Er lebt das Ideal, auf dessen Säulen Antonio unsere Stadt einst gründete. Jetzt ist die Frage, ob wir ihm folgen wollen. Folgen wir dem Teufelssohn – oder verlieren wir uns in Schmutz und Dunkelheit?«
Er hielt inne, und in diesem Moment glommen seine Augen in einem Feuer, das jede Blässe, jede Schwäche und Erschöpfung von seinem Gesicht vertrieb. Nando hielt den Atem an. Auf einmal sah er Salados in der Schlacht, er sah ihn um seine Frau weinen, um seine Kinder, er sah ihn als Senator und als General der Garde, und immer, in jedem einzelnen Bild, sah er dieselbe Stärke in seinen Augen, dieselbe Kraft und Entschlossenheit, die nun in seinem Blick aufflammte und alles andere, jeden Zorn und jede Sturheit, aus seinen Zügen verdrängte.
»Wir sind noch immer frei«, fuhr Salados fort. »Wir sind noch immer Krieger der Schatten. Und es ist unsere Pflicht, niemanden auf dem Schlachtfeld zurückzulassen. So hat Antonio es jeden von uns gelehrt. Wenn wir ihn vergessen, ihn und alles, was er uns beibrachte und worauf er unsere Gemeinschaft einst gründete – wenn wir ihm das antun – erst dann ist er tot!«
Kühl und befreiend strömte die Luft in Nandos Lunge, und er neigte den Kopf vor Salados, als dieser in die Reihen der Senatoren zurücktrat. Alle Anwesenden schwiegen, doch in ihren Gesichtern lag etwas, das wie eine Knospe war kurz vor dem Erblühen.
»Antonio lehrte mich Ehrfurcht«, sagte Nando und schaute von einem zum anderen. »Er lehrte mich, Mut zu haben und an das Ideal zu glauben, das er vertreten hat. Unsere Stadt mag gefallen sein, doch sie ist mehr als nur ein Ort. Sie lebt in uns allen. Sie ist der Herzschlag, den man in dem Mohnfeld vor ihren Toren spüren kann, und dieser Ton klingt in jedem von uns wider. Die Dämonen mögen Bantoryns Brücken einreißen, sie mögen die Häuser zerstören und die Türme sprengen – aber unsere Freiheit können sie uns nicht nehmen, denn diese steckt in jedem von uns, und sie wird für immer da sein, wenn wir in ihrem Sinn leben. Ihr sagt, dass Bantoryn vernichtet wurde, aber das ist nicht wahr! Niemand kann unsere Stadt zerstören, niemand außer uns selbst! Niemand kann uns brechen!«
Er war atemlos und spürte für einen Moment wieder den Nebel auf seinem Gesicht, zu dem Antonios Leib geworden war, und noch einmal hörte er das Lachen seines Mentors und roch den Duft des wilden Mohns.
»Antonio ist für mich gestorben«, fuhr er fort. »Er war mein Lehrer und mein Freund, doch er starb auch für etwas anderes – für das Licht, das in unserem Bund geboren wird. In unserer Treue, in unserer Gemeinschaft liegt eine Kraft, die Antonio durch die einsamsten Tage getragen hat, die ihn wärmte und ihm Zuversicht schenkte in jeder schlaflosen Nacht. Gemeinsam sind wir stärker als jedes Heer der Hölle, habt ihr das vergessen, Krieger Bantoryns?« Er hielt kurz inne und holte tief Atem, ehe er fortfuhr: »Morgen Nacht werde ich nach Bantoryn ziehen – allein oder mit jedem, der sich mir anschließen will.«
Langsam neigte er den Kopf und legte die rechte Faust auf die linke Brust. »Ich schwöre bei meinem Leben«, sagte er und sah Antonio so deutlich vor sich, als würde er direkt vor ihm stehen, »Bantoryn und die Nephilim dieser Stadt zu schützen, Hilfesuchenden Hilfe zu gewähren und ihnen Zuflucht zu bieten vor allem, was sie verfolgt.«
Er spürte die Stille um sich herum, er ertrug es, als sie sich mit Kälte um seine Kehle legte – und hob überrascht den Kopf, als sie von einem kaum hörbaren Geräusch durchbrochen wurde. Ein Nephilim hatte sich erhoben, es war ein Mann mit tiefen Narben in der linken Wange wie von einem Brenneisen, den Nando erst auf den zweiten Blick erkannte. Tolvin war es, der
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