Nephilim
erahnen konnte, was in den Gedanken seines Gegenübers vor sich ging – oder ob er überhaupt Gedanken hatte. »Ich weiß nichts von dir«, sagte er und stellte gleich darauf zu seinem Schrecken fest, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hatte. »Ich meine«, fuhr er schnell fort, »ich soll dir in die Unterwelt folgen und kenne wahrscheinlich noch nicht einmal deinen richtigen Namen.«
Antonio hob die Brauen, und ein kaum merkliches Lächeln flog über seine Lippen. »Mein richtiger Name lautet Alvoron Melechai Di Heposotam, siebzehnter Gesandter des Höchsten Rates, Träger der Schwarzen Flammen zum Zeichen des Rittertums. Was möchtest du wissen?«
Nando schluckte hörbar, doch er war fest entschlossen, der Verlegenheit, die auf einmal in ihm aufwallte, keinen Raum zu geben. »Du bist ein Engel, und dennoch kämpfst du auf der Seite der Nephilim, genauso wie Yrphramar. Warum? Warum stellst du dich gegen dein eigenes Volk?«
Mit einem Schlag verschwand jede Andeutung eines Lächelns von Antonios Gesicht. Er wandte sich ab und trat an den Rand des Daches, den Blick in die Ferne gerichtet, als würde er dort etwas sehen, das Nando verborgen bleiben musste. Eine Weile stand er vollkommen still. Nando trat näher an ihn heran und stellte mit Befremdung fest, dass der Engel nicht atmete. Gleichzeitig lag ein geheimnisvoller Glanz in der goldenen Finsternis seiner Augen, eine Traurigkeit, deren Kälte Nando ans Herz griff und ihn schaudern ließ. Antonio sog die Luft ein und sah ihn an, und für diesen Moment schien es Nando, als blickte er dem Engel in sein Innerstes. Finsternis sah er, gepaart mit einem wirbelnden, funkensprühenden Licht, und er hörte Schreie – die Schreie von Sterbenden.
»Ich war dabei«, sagte Antonio, ohne den Blick abzuwenden. »Ich habe gesehen, wie mein Volk die Nephilim verfolgte, wie Engel zu Mördern wurden und wie sich ihre Gesichter im Kampf zu Fratzen aus Hass und Furcht verzogen, bis sie sich kaum mehr von den Antlitzen boshafter Dämonen unterschieden.«
Nando sah in seinen Augen Bilder von Nephilim auftauchen, die vor Gestalten zu Pferd flohen. Engel jagten hinter ihnen her, mit Schwertern und gleißenden Blitzen zerschmetterten sie deren Körper, trennten ihnen die Köpfe vom Rumpf und rasten wie entfesselt durch die fast wehrlose Menge. Nandos Kehle zog sich zusammen, als er die Kinder erkannte, die sich unter einer Birke aneinanderdrängten, er sah die tränenbefleckten Gesichter ihrer Eltern, die wie von Sinnen gegen die Engel kämpften. Sie wussten, dass ihnen der Tod drohte, er spürte ihre Verzweiflung und ihre Furcht, und doch lag etwas in ihren Augen, eine Wärme und Dunkelheit, die sie dazu brachte, gegen die Übermacht aufzubegehren und ihre Kinder mit allem zu verteidigen, was sie hatten. Es war eine Finsternis von solcher Tiefe, dass sie Nando den Atem stocken ließ. Dann senkte Antonio den Blick.
»Ich habe erlebt, was aus den Engeln werden kann«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich habe gesehen, was aus ihnen wird, wenn sie der Furcht folgen und so in die Dunkelheit fallen. Du hast recht, ich bin ein Engel wie sie – doch ich habe mich für das Licht entschieden, auch wenn das bedeutet, dass ich jenseits davon leben muss. Dieses Licht, Nando, ist mein Antrieb. Für dieses Licht würde ich mein Leben geben, das spürte ich damals. Und ich verließ mein Volk für immer.« Er hielt kurz inne, ehe er fortfuhr: »Die Engel begannen, mich zu jagen. Mit all ihren Mitteln verfolgten sie mich. Ich floh in die Schatten, doch sie hätten mich gefangen, wenn Yrphramar mich nicht gefunden hätte. Er nahm mich mit sich – hinab in die Unterwelt, hinein in sein Reich der Dämmerung. Er zeigte mir jenen Ort, an dem ich Bantoryn errichtete. Später erst verpflichtete er sich als Wächter der Stadt, doch Freunde waren wir schon damals – seit jenem Augenblick, da wir uns im Zwielicht zwischen den Welten begegnet sind.«
Für einen Moment war es still. Nando betrachtete Antonio von der Seite, und zum ersten Mal, seit sie sich kannten, bemerkte er einen Hauch von Wärme in dessen Zügen. Sein Herz schlug schneller, als sich die Gedanken in ihm zu Worten formten, und er wandte sich ab, als er sie aussprach: »Du kannst mir tatsächlich alles beibringen, was ich brauche, um Bhrorok zu besiegen?«, fragte er und sah aus dem Augenwinkel, dass Antonio nickte. »Und anschließend kann ich mich vor den Engeln verstecken und in die Welt der Menschen zurückkehren?«
Antonio
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