Nephilim
schwieg für einen Augenblick, dann nickte er leicht. »Wenn du das wünschst«, erwiderte er leise.
»Meine Tante … «, begann Nando, doch der Engel schüttelte den Kopf, als würde er wissen, was er sagen wollte.
»Sie kann dich nicht begleiten«, erwiderte er ruhig. »Mit deinem Einzug in die Unterwelt wirst du jeden Kontakt zu deiner Familie, zu deinen Freunden und Bekannten abbrechen, auch, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Erst wenn du die Erste Prüfung abgelegt und damit bewiesen hast, dass du in der Schattenwelt überleben kannst und fähig bist, dich selbst und deine Lieben ebenso zu schützen und zu verteidigen wie die Stadt der Nephilim, darfst du den Kontakt wieder suchen. Ich sage dir aber schon jetzt, dass nur wenige Nephilim dies dann noch tun.«
Er schwieg, und Nando musste sich anstrengen, um seinen Zorn bei sich zu behalten. Niemals würde er den Kontakt zu Mara und seinen Freunden für immer abbrechen, ganz gleich, welche Kräfte ihn dazu bringen wollten. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre davongelaufen, fort von den Entscheidungen, vor die dieser Engel ihn stellte. Doch er wusste, dass ihn jeder Schritt weg von Antonio geradewegs in Bhroroks oder Avartos’ Arme führen würde, also blieb er stehen, wo er war, und starrte den Engel mit finsterer Miene an.
»Ich biete dir an, deiner Tante eine kurze Nachricht zukommen zu lassen«, fuhr Antonio fort, und eine Ruhe klang in seiner Stimme mit, die gegen Nandos Willen den Zorn milderte, der hinter seiner Stirn pochte. »Eine Nachricht, nach der es dir gut geht und du dich bei ihr melden wirst, sobald es dir möglich sein wird – doch sei dir bewusst, dass jeder Kontakt, den du zu ihr suchst, die Gefahr birgt, von den Engeln oder Bhrorok entdeckt zu werden.«
Nando verschränkte die Arme vor der Brust. »Sind sie alle mit dir gegangen? Alle Nephilim, die erwacht sind und die du mit diesen Tatsachen konfrontiert hast?«
Antonio schüttelte den Kopf. »Nein. Einige wehren sich gegen die Wahrheit und fliehen. Meist werden sie kurz darauf von den Engeln gefunden und getötet. Andere wollen ihr altes Leben nicht unterbrechen, und sie entscheiden sich dafür, ihre Kräfte zu unterdrücken und sich von ihren Schwingen zu trennen, um der Verfolgung zu entgehen. Wie reagieren die Eltern, wenn sie erfahren, dass ihr Kind ein Nephilim ist? Wie hält man es aus, zunächst keinen Kontakt mehr zu Freunden und Familie zu haben und in eine Welt hinabzusteigen, die man bislang noch nicht einmal kannte? Wie soll man als ein Wesen leben, das in der Welt an sich keinen Platz hat, wie kann man es ertragen, die gesamte alte Existenz aufzugeben oder neu auszurichten, von einem Tag auf den anderen?« Er musterte Nando von oben bis unten. »Du bist nicht der Erste, dem das Herz bei diesen Fragen in die Hose rutscht. Ich halte es schon bei einem gewöhnlichen Nephilim für verantwortungslos, vor der eigenen Wahrheit davonzulaufen, doch bei dir liegen die Dinge noch einmal anders. Denn nicht jeder Nephilim, der gerade seine Kräfte entdeckt hat, wird von einem Dämon verfolgt und steht vor der Notwendigkeit, sich gegen die Kräfte der Hölle verteidigen zu müssen.«
Nando biss die Zähne so fest aufeinander, dass sein Kiefer schmerzte. »Ich habe keine Wahl«, murmelte er. Dann holte er tief Atem. »Aber wenn du Mara nicht beschützt, werde ich nicht mit dir gehen! Du musst mir schwören, dass du sie mit jeder Macht verteidigen wirst, über die du verfügst, wenn ihr Gefahr drohen sollte, oder ich gehe zurück und versuche es selbst!«
Antonio hob die linke Braue. Dann lächelte er. »Ich schwöre dir, regelmäßig Patrouillen zu ihr zu schicken, wenn du mir versprichst, keinen Kontakt zu ihr zu suchen, solange du nicht die Erste Prüfung deiner Ausbildung bestanden hast.«
Nando nickte langsam. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte er leise. »Ich habe keinen Grund, dir zu misstrauen. Und du bist der Einzige, der mir helfen kann. Daher werde ich mit dir gehen. Auch wenn ich nicht weiß, was mich dort unten erwartet.«
Antonio verzog den Mund zu einem leicht spöttischen Lächeln. Er hielt Nando die Hand hin, und sie besiegelten ihr Abkommen. Dann wandte er sich ab und sprang auf die Brüstung am Rand des Daches. Balancierend breitete er die Arme aus, bewegte sich grazil vor und zurück und winkte Nando zu sich heran, der energisch den Kopf schüttelte. Schlimm genug, dass er zugestimmt hatte, mit einem Engel in die Unterwelt Roms hinabzusteigen
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