Nephilim
lag. Die Stimme hinter ihm wallte auf, doch Nando heftete seinen Blick an den Mond, der groß und strahlend über den Häusern hing. Er entging den Hieben der Schatten, und als er atemlos in die Gasse rannte, das Licht des Mondes auf seinem Gesicht, verstummte die Stimme hinter ihm für einen Augenblick. Stattdessen sah er die Gestalt, die auf dem von Unrat bedeckten Asphalt kauerte, und obgleich Nando den jungen Mann schon unzählige Male gesehen hatte, fühlte er auch jetzt den Zauber, der von ihm ausging wie sanftes, warmes Licht. Wie in seinem Traum zögerte Nando, näher zu treten und die Hand nach einem der Flügel auszustrecken, und wie stets erschrak er vor der Erkenntnis, dass der Fremde auf ihn wartete. Doch im Gegensatz zu den bisherigen Träumen erwachte Nando dieses Mal nicht.
Für einen Augenblick stand er regungslos, erstaunt darüber, in diesem Traum gefangen zu sein, und gleichzeitig voller Furcht und Faszination für das Wesen, das da vor ihm saß. Er hörte den Teufel seinen Namen rufen, doch er drängte dessen Stimme zurück und trat auf den Engel zu, der darauf wartete, ihn zu retten. Seine Haut wirkte aus der Nähe wie Stein oder gefrorenes Pergament, und obgleich Nando kaum atmen konnte vor Anspannung, berührte er vorsichtig einen Flügel des Fremden. Seine Hand glitt durch ihn hindurch wie durch dichten Nebel und verfärbte den Körper des Engels in schwachem goldenen Licht. Der Glanz breitete sich über den anderen Flügel und den Rücken aus, glitt über die Beine und die Brust und näherte sich dem Gesicht, das noch im Schatten lag. Nando ging vor dem Engel in die Knie. Er rechnete damit, Antonio vor sich zu sehen, Antonio in jungen Jahren, oder Yrphramar, der ihn mit einem schelmischen Lächeln bedenken würde, ehe er ihn vor der Stimme des Teufels in Sicherheit brächte. Langsam glitt der goldene Lichtschein über die Züge der Gestalt. Mit einem Schrei wich Nando zurück. Er schaute sich selbst ins Gesicht.
Im selben Moment ging ein Flüstern durch die Gasse, ein Rauschen wie von mächtigen Schwingenschlägen, das sich in der finstersten Ecke zusammenzog. Nando kniff die Augen zusammen, er erkannte eine Gestalt in den Schatten, schemenhaft wie ein Trugbild und doch von einer Präsenz, die körperlich fühlbar war und sich als knisternde Kälte über den Asphalt zog. Die Schatten tanzten vor Nandos Blick, er meinte, einen Hund in ihnen zu erkennen, einen Pudel vielleicht. Dann wieder sah er tausend flackernde Maskengesichter, er hörte Stimmen, die sich zu einem Sturm verbanden und an seinen Kleidern rissen, und er sah ein Schwingenpaar, das sich schwarz und samten in der Dunkelheit bewegte. Gleich darauf verklangen die Stimmen, der Sturm legte sich, doch die Stille, die sich nun über die Gasse senkte, ließ Nandos Herz schneller schlagen. Atemlos starrte er in die Finsternis, als sich plötzlich mit leisem Knistern ein Feuer inmitten der Schatten entfachte. Eine Flamme war es, gleißend und schneeweiß, und kurz erhellte sie ein Augenpaar in der Dunkelheit – es waren die goldenen Augen eines Engels.
Nando erschrak, denn noch ehe die Stimme von den Rändern der Gasse auf ihn zukroch, die Stimme aus Glut und Wüstenstaub, wusste er, wer da in den Schatten stand und zu ihm herübersah. Ein Lachen drang aus der Dunkelheit, grollend und düster, und es umspielte den Namen, der nun über Nandos Lippen glitt. Luzifer. Im selben Moment wurde die Stimme um ihn her zu tanzenden Schatten. Sie drängten auf ihn zu, sie umschmeichelten ihn, während er die Flamme fixierte, die in der Ecke flackerte.
Furcht , flüsterte der Teufel an Nandos Ohr, so nah, als würde er neben ihm stehen. Nando fuhr zusammen, er kam auf die Beine, aber es gab kein Entkommen, das wusste er. Das ist es, was du fühlst. Du fürchtest dich vor dem, was du bist, fürchtest dich vor dem Unbekannten, der Dunkelheit, dem Tod, denn du bist ein Mensch und dein Menschentum begründet deine Schwäche. Du wirst meinem Obersten Krieger niemals gewachsen sein. Bhrorok wird dich finden, wenn du nicht aus freien Stücken zu mir kommst, und dann wird es keine Gnade mehr geben für dich. Doch es liegt an dir, dein Leben zu retten.
Die Flamme loderte auf, und obwohl Nando mit aller Kraft versuchte, sich abzuwenden, konnte er den Blick nicht von ihr lösen. Die Schatten um ihn her zogen ihn mit sich, er tat einen Schritt auf die Flamme zu, und je näher er ihr kam, desto stärker schien es ihm, als würde sich jeder Zweifel, jede
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