Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
Vom Netzwerk:
– aber ganz sicher würde er nicht auf einer Brüstung herumturnen und sich den Hals brechen.
    »Du sagtest, dass Bhrorok die Inkarnation des Bösen sei, und ich widersprach dir – zu Recht«, sagte Antonio, während er innehielt, die Position eines Tänzers einnahm, Standbein und Spielbein gekreuzt, und die Arme auf dem Rücken verschränkte. »Das wirklich Böse ist die Furcht. Nichts hat gerade über die Menschen so große Macht wie sie.«
    Mit diesen Worten verbeugte er sich formvollendet, wandte den Blick über die Dächer der Stadt – und trat in den Abgrund. Nando schrie auf, er stürzte sich vor bis zum Rand, um Antonios Fall zu verhindern. Doch der Engel fiel nicht.
    Er stand über der Häuserschlucht in der Luft wie auf festem Grund, reglos und unnachgiebig wie ein Felsen im sturmgepeitschten Meer, ehe er zurück aufs Dach trat. »Du glaubst, nichts Besonderes zu sein, doch das ist nicht wahr. Um Bhrorok besiegen zu können, musst du lernen zu fliegen. Du musst lernen, deine Furcht zu besiegen, den Strömen der Nacht zu lauschen und deine Flügel auszubilden. Und vor allem anderen musst du lernen, die Wirklichkeit zu sehen.«
    Langsam streckte er die Hand aus. Nando hörte die Stimme aus seinem Traum weit hinten in seinen Gedanken auflachen, doch er drängte sie mit aller Kraft zurück. Er trat auf Antonio zu, es schien ihm, als würde er sich nicht nur dem Abgrund der Häuserschlucht nähern, sondern einer wesentlich größeren Kluft in seinem Inneren, deren Finsternis ihn ängstigte und lähmte. Atemlos schaute er in Antonios schwarzgoldene Augen und meinte, seine eigene Dunkelheit darin zu erkennen. Die Finger des Engels schlossen sich um seine Hand, mit einem Ruck zog er ihn zu sich hinauf auf die Brüstung.
    Nando schwankte, panisch griff er nach Antonios Arm, doch der Engel hielt ihn fest. »Schau in das Licht«, sagte er, während er Nando die Hände auf die Schultern legte, und dieser erkannte eine weiße Flamme in Antonios Pupillen, die erst langsam, dann immer schneller auf ihn zukam und schließlich in einem grellen Blitz explodierte.
    Nando wurde durch die Luft geschleudert, er schlug hart auf dem Boden auf. Stöhnend kam er auf die Beine und fand sich in einer dunklen Gasse wieder. Antonio war verschwunden, und eine seltsame Stille lag über der Stadt, als wäre sie vollkommen verlassen. Nur die Schatten, die in den Ecken der Gasse lauerten, bewegten sich wie lebendige Wesen, verbanden sich zu geisterhaften Schemen und krochen unheilvoll auf Nando zu. Für einen Moment setzte sein Herz aus. Er war in seinem Traum gelandet, jenem Traum, der ihn seit Wochen verfolgte. Doch dieses Mal war es anders. Er spürte die Straße unter seinen Füßen, als er sich in Bewegung setzte und zu rennen begann, fühlte den Wind auf seinem Gesicht und wusste, wessen Stimme es war, die wispernd über den Asphalt kroch. Sie war mehr als flammender Wüstenwind, mehr als jede Lockung und Versuchung, und als sie Nando mit glühenden Fingern über die Haut und die Kehle hinab bis in sein Innerstes fuhr, schrie er auf aus Furcht vor dem Geist, der sie war. Der erste aller Dämonen rief ihn zu sich, jener Höllenfürst, dessen Bild seit Jahrtausenden die Ängste der Menschen nährte, und er hatte nur ein Ziel: Nando zu vernichten, ihm die Kraft zu rauben, die er als die seine beanspruchte, und das armselige Menschlein anschließend im Chor seiner grausamen Gesänge zu zerreißen wie eine Figur aus Papier. Der Teufel machte Jagd auf ihn.
    Die Häuser neigten sich zu Nando herab, während er die Straße hinunterrannte, die Schatten hinter ihm griffen nach seinen Beinen. Die Stimme glitt ihm nach, sie schien von überall her zu kommen wie Blut, das aus sterbenden Leibern strömt und sich zu einer tödlichen Welle aus Schmerz vereint. Sie rief seinen Namen, es war ein drängender, verheißungsvoller Laut, der Nando ins Mark fuhr. Er meinte, die Stimme seiner Mutter in diesem Ton zu erkennen, das Lachen seines Vaters, er glaubte, sie sehen zu können, wenn er nur stehen blieb und sich umwandte. Er stolperte, sein Schritt wurde langsamer. Er musste nur stehen bleiben, nichts weiter als das, brauchte sich nur umzuwenden und würde sie wiedersehen. Gerade als er den Blick halb zurückwandte, fiel silbriges Dämmerlicht auf sein Gesicht, und da erinnerte er sich an die Gasse, die in jedem dieser Träume seine Rettung bedeutet hatte.
    Entschlossen riss er den Kopf herum und eilte auf die Gasse zu, die nicht mehr weit entfernt

Weitere Kostenlose Bücher