Nephilim
ihm seine Flügel in keiner Weise fremd. Fast war es, als hätte er lediglich etwas zurückbekommen, das ihm bislang gefehlt und nun die Kraft gehabt hatte, den ihm angestammten Platz einzunehmen und ein Teil von ihm zu werden. Nando dachte an seinen Flug im Traum – und an das Knirschen des Autodachs, auf dem er in der Realität gelandet war.
»Für jemanden, der gerade in mehrfacher Hinsicht dem Tod entkommen ist, schaust du sehr düster drein«, bemerkte Antonio, der sich auf dem Rand des Vierströmebrunnens niedergelassen hatte.
Nando zuckte die Achseln. »Ich sehe aus wie ein Nephilim, der nicht fliegen kann«, erwiderte er missmutig, doch Antonio verdrehte die Augen.
»Selbst Vögel müssen fliegen lernen«, erwiderte er gelassen. »Außerdem habe ich dir doch gesagt, dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn ein neu erwachter Nephilim seine Schwingen zunächst nicht benutzen kann. Das kann physische oder psychische Ursachen haben und gibt sich meist von ganz allein. Und bis dahin werden wir dir das Fliegen auf andere Weise ermöglichen. Erwarte nicht zu viel von dir.«
Nando seufzte. Wie gern hätte er die Schwingen ausgebreitet und wäre über die Dächer Roms hinweggerast! Er hätte einen Abstecher bei Luca machen und an sein Fenster klopfen können, das im vierten Stock lag. Er lächelte, als er an den Ausdruck auf Lucas Zügen bei diesem Anblick dachte, doch gleich darauf erinnerte er sich daran, dass er seinen Freund nun wohl für eine lange Zeit nicht mehr sehen würde. Ehe seine Gedanken sich Mara und Giovanni zuwenden konnten, verließ er seinen Platz am Fenster und ging zu Antonio hinüber.
Der Engel drehte eine kleine bronzene Trillerpfeife zwischen den Fingern. Vor Kurzem hatte er mit voller Kraft hineingepustet, doch es war kein Ton herausgekommen, und Nando bemerkte das unruhige Flackern in Antonios Augen, als dieser seinen Blick zum wiederholten Mal hinauf zu den umstehenden Häuserdächern gleiten ließ.
»Wie wäre es, wenn du mir endlich sagen würdest, worauf wir warten?«, fragte Nando und schickte sich gerade an, sich neben Antonio zu setzen, als er spürte, wie sein linker Flügel durch den steinernen Rand des Brunnens glitt wie durch dichten Nebel. Erschrocken wich er zurück, doch Antonio lachte nur.
»Die Schattenwelt birgt Erweiterungen unserer Realität, die nur von magisch begabten Wesen wie uns wahrgenommen werden können«, erklärte er. »Ein mächtiger Zauber, den mein Volk einst wirkte, verhindert, dass diese Erweiterungen die Menschen beeinflussen können. Daher wird es dir möglich sein, mit ausgebreiteten Schwingen durch Ansammlungen von Menschen zu gehen, ohne dass diese etwas anderes auf ihren Gesichtern fühlen als einen kühlen Hauch.«
Nando nickte nachdenklich. Vorsichtig ließ er sich auf dem Brunnenrand nieder. Seine Schwingen glitten durch den Stein, als wären sie nichts als feiner Dunst. Ein Kribbeln durchzog seine Flügel und ließ ihn auflachen, doch gleich darauf wurde er wieder ernst. »Dann wird meine Tante niemals sehen, wer ich wirklich bin?«
Antonio lächelte ein wenig. »Nach allem, was ich in deinen Gedanken über deine Tante erfahren habe, hat sie das längst gesehen. Nicht alle Menschen brauchen ihre Augen dazu.«
Nando wollte gerade etwas erwidern, als ein lautes Motorengeheul ihn herumfahren ließ. Instinktiv sprang er auf und sah, wie ein Taxi in rasender Geschwindigkeit aus einer Seitenstraße schoss und direkt auf ihn zuhielt. Er wich zurück, stolperte über das Geländer rings um den Brunnen und landete der Länge nach auf dem Boden. Mit quietschenden Rädern kam das Taxi eine knappe Armlänge von ihm entfernt zum Stehen. Nando starrte auf die pinkfarbene Plastikente, die wie eine Galionsfigur auf der Kühlerhaube prangte, und kam mit weichen Knien auf die Beine.
Aus dem Taxi sprang ein Inder mit hüftlangen, schwarzen Haaren, die er zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Er trug eine leuchtend gelbe Pluderhose, Sandalen mit Glitzersteinchen und eine Bluse mit psychedelischen Mustern, deren Ärmel ein wenig zu kurz waren und den Blick freigaben auf bunte Tätowierungen auf den Unterarmen. An den Fingern und in den Ohren trug er goldene Ringe, und trotz der Tageszeit saß eine Sonnenbrille mit blauen Gläsern auf seiner Nase. Er strahlte von einem Ohr zum anderen, stürzte mit ausgebreiteten Armen auf Antonio zu, küsste ihn auf beide Wangen und sagte etwas in einer für Nando unverständlichen Sprache.
»Eine wunderbare Nacht für eine
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