Nephilim
Magen drehte sich um sich selbst, und er schloss die Augen. Er zwang sich, an den Fiat Panda zu denken, an die Schwingen, die aus seinem Rücken ragten, und redete sich ein, dass er womöglich auch einen Unfall überleben würde, der ihn mit zweihundert Sachen gegen das nächste Haus katapultierte.
Nein , hörte er Antonios Stimme in seinem Kopf und riss die Augen auf. Das würdest du nicht. Du bist stärker als ein gewöhnlicher Mensch, aber du bist nicht unsterblich. Die Ewigkeit hält nur die ältesten Engel und Dämonen bei sich gefangen. Für gewöhnlich werden Nephilim älter als Menschen, aber wie viel älter scheint von vielen Faktoren abzuhängen. Die Wissenschaft der Schattenwelt hat dieses Geheimnis noch nicht ergründet.
Nando wollte etwas erwidern und vor allem seiner Empörung darüber Luft machen, dass Antonio seine Gedanken las, doch da legte Giorgio sein Plüschmobil in die nächste Kurve und ließ ihn erneut die Augen schließen.
»Du bist ein Mensch, nicht wahr?«, fragte Nando, um sich von seinem tanzenden Magen abzulenken, doch Giorgio wandte sich halb zu ihm um und verriss das Steuer, sodass Nando aufstöhnte.
»Man sieht es mir also an«, erwiderte Giorgio und lachte. »Nun, du hast recht – ich bin ein Mensch. Allerdings bin ich auch über ungefähr siebenundneunzig Ecken mit dem Hexer von Babylon verwandt, einem verfluchten Dämon, wenn man den Sagen der Unterwelt glaubt, der über ungeheure magische Kraft verfügte. Die hat er an seine Nachfahren vererbt, und bei mir ist gerade noch so viel angekommen, dass ich mir auf magische Weise die Schuhe zubinden kann. Phantastisch, nicht wahr?« Giorgio lachte erneut und raste um eine Kurve, sodass Nando gegen die Tür gepresst wurde. »Vermutlich habe ich diese Kraft von meinem Vater, den habe ich nie kennengelernt. Wie dem auch sei – natürlich blieb es mir aufgrund meines beträchtlichen magischen Potentials nicht erspart, hinter den Schleier der Schattenwelt zu schauen, sodass ich bereits als kleiner Pimpf Monstren mit Flügeln auf der Straße erkannte, und nach vielfältigen Therapien und einer ganz und gar wunderbaren Schulzeit riss ich mit dreizehn von zu Hause aus und geriet nicht nur mit dem Gesetz der Menschen in Konflikt, sondern auch mit dem der Engel. Magisch begabte Menschen sind ihnen ein Dorn im Auge, und wenn sie aufmucken, werden sie normalerweise auf die eine oder andere Weise ausgeschaltet. Ehe es dazu kommen konnte, begegnete ich Antonio. Er lehrte mich, meine Magie zu kontrollieren und mich vor den Augen der Engel zu verbergen, und er half mir, meinen Stand zwischen den Welten zu finden und zu bewahren.«
Giorgio sah Nando im Rückspiegel an, seine Augen waren vollkommen ernst geworden, während die gelben Tupfen um seine Iris tanzten. Nando schien es, als würde Giorgio seine eigene Unsicherheit spüren, als würde er genau wissen, welche Anspannung ihm im Nacken saß, und als Giorgio lächelte und voller Zuversicht zu Antonio hinübersah, glitt ein wärmender Schauer über Nandos Rücken.
Gleich darauf preschte Giorgio über eine viel befahrene Kreuzung. Nur knapp entgingen sie einem Lastwagen, der hupend auf sie zuschoss. Nando spürte seinen Magen erneut. Er kurbelte das Fenster herunter, doch die frische Luft brachte nicht die gewünschte Erleichterung. Gerade als er glaubte, sich nicht länger zusammenreißen zu können, verlangsamte sich ihre Fahrt. Nando schaute aus dem Fenster und stellte fest, dass sie das Industriegebiet im Osten der Stadt erreicht hatten. Atemlos wischte er sich über die Stirn. Von Giorgio konnte so mancher Taxifahrer der Stadt noch etwas lernen, so viel war sicher.
Sie hielten vor einer Lagerhalle, an deren verrostetem Tor ein dickes Vorhängeschloss prangte. Leise vor sich hin summend öffnete Giorgio das Tor und steuerte das Taxi durch die leere Halle in einen Lastenaufzug. Mit Schwung ließ er das Gitter hinuntersausen und drückte auf einen seltsam flirrenden Knopf. Dann setzte er sich wieder hinters Steuer, stellte den Motor ab und begann, mit den Fingern auf dem Lenkrad ein Lied zu trommeln, während der Fahrstuhl sich mit rasselndem Geräusch in Bewegung setzte.
»Von hier aus bringst du uns zum Aschemarkt«, sagte Antonio leise.
Giorgio sah ihn an, und für einen winzigen Moment verrutschte das Lächeln auf seinem Gesicht. Das genügte, um Nando in Unruhe zu versetzen. Angespannt sah er zu, wie sie tiefer und tiefer sanken. Die Stille um sie herum war unheimlich, der Aufzug
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