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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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nichts mehr als der Mond und die Finsternis, der Schmerz zerriss ihn fast, und doch spürte er eine ungeahnte Euphorie durch seinen Körper rasen, als ihm bewusst wurde, dass er fliegen konnte. Doch plötzlich griff heftiger Schwindel nach ihm, das Lachen des Teufels hallte in ihm wider, der Mond verschwamm vor seinem Blick. Er hob die Arme, seine Schwingen gehorchten ihm nicht mehr, er wusste nicht, ob er flog oder fiel, und diese Erkenntnis flutete ihn mit lähmender Hilflosigkeit. Gleich darauf zerriss ein greller Blitz den Traum.
    Nando spürte Antonios Hand auf seinen Augen, er wusste, dass er neben dem Engel auf der Brüstung des Daches stand.
    »Nun bist du der Schatten geworden, der du immer schon warst«, hörte er Antonios Stimme an seinem Ohr. »Ein Wanderer zwischen den Welten. Die Realität, wie du sie kanntest, gibt es nicht mehr. Deine Welt ist nun die Welt der Schatten. Nur die, die jenseits des Lichts stehen, können sie in ihrer ganzen Pracht erleben – nur sie sehen Licht und Finsternis.«
    Antonio zog die Hand zurück, und Nando riss die Augen auf. Vor ihm erhob sich Rom – doch was für ein Rom war das! Wie ein gigantisches Elmsfeuer erhoben sich Türme, Erker und Paläste in weißem und goldenem Licht aus den Gebäuden der Stadt. Das Pantheon besaß goldene Kuppeln, das Kolosseum erstreckte sich in filigranen Stockwerken in den Himmel, und der Tiber durchzog die Stadt wie ein Band aus grüner Seide. Die Pflanzen der Parkanlagen glommen in tausend Farben, majestätische Bäume richteten sich in den Parks in die Höhe und streckten ihre Äste wie die Tentakel einer riesigen Krake über die Straßen. Vom Petersdom und einigen anderen Gebäuden westlich des Tibers strömten flammende Strahlen zum Himmel hinauf, und über allem, glimmend wie ein Konstrukt aus Licht und Schnee, erhob sich die Engelsburg in die Nacht.
    Unzählige Erker, Zinnen und Fenster zierten ihre Fassade, Kaskaden aus Licht stürzten aus mehreren Öffnungen in die Tiefe, und ganz oben, auf einem Podest aus gebrochenem Kristall, prangte der Erzengel Michael als erhabene Statue über der Stadt. Nando folgte den Strahlen, die auch von der Engelsburg in den Himmel geworfen wurden. Goldene Schleier glitten westlich des Tibers über das Firmament hinweg wie Nebel in einem Traum, und plötzlich sah er zwischen zwei Nebelfetzen Strukturen inmitten des Lichts, die sich wie ein gewaltiges Wespennest in der Luft erhoben. Schemenhaft konnte er Brücken erkennen, Türme, filigrane Gebäude, die aus nichts anderem zu bestehen schienen als Licht. Durch die Schleier wirkte die Erscheinung unwirklich, doch Nando erkannte deutlich die Umrisse einer Stadt, die wie ein riesiges Schloss und von flammenden Strahlen gehalten über einem Teil Roms schwebte.
    Er hatte vergessen, Atem zu holen. Gierig sog er die Luft ein, die ihm auf einmal so viel kostbarer erschien, und konnte sich nicht sattsehen an den Farben, in denen sich die Stadt entzündet hatte. Hingegeben schaute er zur Engelsburg hinüber, dem strahlendsten Gebäude in diesem Meer aus Licht, das als Herzstück zwischen Rom und der Stadt in den Wolken lag. Er ließ seinen Blick über die Dächer schweifen, schaute an sich hinab – und schrie vor Entsetzen auf. Er stand keineswegs auf dem Rand des Daches. Er schwebte ohne einen Halt unter den Füßen über dem Abgrund der Häuserschlucht. Hilflos ruderte er mit den Armen, er fühlte einen durchdringenden Schmerz, als er versuchte, seine Schwingen zu gebrauchen. Gleich darauf spürte er den Luftzug auf seinen Wangen. Er stürzte ab.
    Mit einem Schrei sah er die Straße auf sich zurasen, die Karawanen aus geparkten Autos, das betonharte Pflaster. Er wusste, dass er sterben würde, und dennoch verschränkte er die Arme schützend vor dem Gesicht. Er dachte an seine Tante, an Giovanni, Luca, seine Eltern, dachte tausend unsinnige Dinge – und landete scheppernd auf einem geparkten Fiat Panda.
    Atemlos starrte er in die goldenen Schleier über sich, erschüttert darüber, dass er nicht tot war. Er spürte jeden Knochen in seinem Körper, doch als er sich aufrichtete, stellte er fest, dass er keine weiteren Verletzungen davongetragen hatte als blaue Flecken.
    »Du musst noch viel lernen«, sagte Antonio, der in diesem Moment hinter ihm landete. Schwarze Schwingen ragten aus seinem Rücken, und in seinen Händen hielt er die Geige Yrphramars. Ein sanfter Schimmer glitt über ihren neuen Körper hinweg. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein gerade

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