Neptuns Tochter (Gesamtausgabe)
sorgfältig eingewickelt und in Kisten verpackt werden. Damit ihm nichts passieren konnte. Wie im richtigen Leben.
»Das wird so nichts«, sagte Timea genervt und stand auf. Sie hatte vermutlich zu viel gearbeitet. Manchmal konnte einen die Erschöpfung nicht schlafen lassen. Außerdem musste sich Timea über vieles Gedanken machen. Der Umzug in die neue Wohnung stand kurz bevor. Um diese Sache sollte sie sich in erster Linie kümmern.
Nach einer erfrischenden Dusche ging sie in die Küche; und traf dort auf Petra Lorentz. »Was machen Sie um die Uhrzeit schon hier? Und das an einem Sonntag?«, fragte Timea ein wenig erschrocken.
»Ich kann nicht entspannen, wenn ich weiß, dass so viel zu tun ist«, erwiderte Petra. »Und was ist es bei Ihnen?«
»Das Gleiche.«
Petra stellte das Glas, das sie in Händen hielt, ab. »Soll ich Ihnen einen Tee aufsetzen?«, fragte sie.
»Ich glaube, ich trinke heute lieber Kaffee«, sagte Timea.
Selbstverständlich war Petra Lorentz überrascht. Das wusste Timea. Schließlich trank sie so gut wie nie Kaffee. Weil sie den bitteren Geschmack nicht mochte. Heute aber hatte sie das Bedürfnis danach.
Netterweise ließ Petra das Außergewöhnliche unkommentiert stehen. »Schwach oder stark?«, wollte sie nur wissen.
»So stark wie möglich.«
Der Kaffee schmeckte furchtbar.
»Doch lieber Tee?«, fragte Petra Lorentz ungerührt.
»Nein, nein«, widersprach Timea. Tapfer trank sie den Kaffee, schüttelte sich und spülte die leere Tasse ab.
Petra Lorentz räumte derweil die Schränke aus. Wortlos reichte sie Timea einen Stapel alter Zeitungen, die ihrerseits Glas für Glas einwickelte und in eine der Kisten verstaute. So arbeiteten sie eine Zeit lang schweigend nebeneinander her. Bis Timea das Glas, das sie in Händen hielt, abstellte und sich an den Küchentisch lehnte. Sie betrachtete ihre Angestellte. Die Frau, die seit fast dreißig Jahren für die Familie Illay tätig war; die inzwischen selbst zu einem Familienmitglied geworden war. »Darf ich Sie etwas fragen?«, bat Timea. »Sie müssen auch nicht antworten, wenn Sie nicht wollen.«
Petra Lorentz schloss die Schranktür und trat zu Timea. »Worum geht es denn?«
»Warum haben Sie nie geheiratet?«, fragte Timea, ehe sie womöglich der Mut verließ. Schließlich war das eine sehr persönliche Frage, die ihr in den Sinn gekommen war. »Ich meine: Sie haben sich all die Jahre nur um uns gekümmert. Hat es da niemanden gegeben?«
»Doch, hat es«, antwortete Petra Lorentz. In Gedanken offenbar bei diesem Jemand. »Aber heiraten ging nicht, weil er schon verheiratet war«, gab sie schließlich zu.
»Wie jetzt? Wollen Sie damit sagen, dass …?«
»Genau, Timea«, sagte Petra. »Ich habe ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann gehabt. Über Jahre.«
»Das …« Timea war schockiert. Diese Neuigkeit brachte irgendwie ihr Weltbild ins Wanken. Petra Lorentz war für sie immer der Inbegriff von Integrität gewesen. Ein Vorbild. »Aber irgendwann haben Sie das doch beendet?«
»Nicht wirklich«, gestand Petra traurig. Ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht. »Er ist gestorben«, sagte sie tonlos. Sie zog einen Stuhl heraus und setzte sich. »Wissen Sie, was das Schlimmste war?«, flüsterte sie.
Timea schüttelte den Kopf.
»Als er ins Krankenhaus gekommen ist, habe ich nichts mitbekommen. Und wenn, hätte man mir auch keine Auskünfte gegeben. Von seinem Tod habe ich aus einer Zeitung erfahren. Und bei seiner Beerdigung bin ich nicht mehr gewesen als jeder andere Gast. Ich musste meine Trauer verbergen.«
Der Schmerz, der aus diesen Worten sprach, schnitt Timea ins Herz. Sie sah eine junge Petra Lorentz vor sich. Wie sie an einem offenen Grab stand und so tun musste, als läge nur ein Bekannter darin. Wie sie nur wenige Augenblicke dort stehen durfte, weil der Platz daneben für die Witwe bestimmt war. Die Vorstellung verursachte einen dicken Kloß in Timeas Hals. »Das muss schrecklich für Sie gewesen sein«, sagte sie rau. Niemals wollte sie dasselbe erdulden müssen. Um sich auch selbst zu beruhigen, legte sie die Hände auf Petras Schultern.
»Ja. Aber es ist lange her.«
»Trotzdem«, meinte Timea mehr zu sich selbst. Sie drückte die Schultern leicht. »Haben Sie sich nicht gewünscht, dass Sie sich nie auf diese Affäre eingelassen hätten?«
Lächelnd drehte Petra Lorentz sich um. »Manchmal vielleicht«, gestand sie. »Aber ich bin froh, dass ich es getan habe. Die Zeit mit ihm ist nämlich mit die
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