Nerd Attack
Hause zu nehmen.
Am 26. April 1986 gegen halb zwei Uhr morgens geriet Aleksandr Akimow an seinem Arbeitsplatz in Panik und drückte den Havarieschalter. Statt jedoch den Reaktor, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, abzuschalten, sorgte der Schichtleiter mit diesem Knopfdruck endgültig dafür, dass Block vier des Kernkraftwerks Tschernobyl außer Kontrolle geriet. Eine Kernschmelze und die anschließende Explosion verseuchten das Umland des Kraftwerks auf Jahrzehnte hinaus und schleuderten eine radioaktive Aerosolwolke weit hinauf in den Himmel über der Sowjetunion.
Es dauerte Tage, bis das ganze Ausmaß des Super-GAUs im ukrainischen Atomkraftwerk in Westeuropa bekannt wurde. Als schließlich herauskam, was da tatsächlich geschehen war, begannen wir in Windeseile zu lernen: Auf dem Pausenhof wurden Begriffe wie Becquerel, Gray und Cäsium innerhalb von Tagen dem Alltagswortschatz hinzugefügt. In manchen Familien mussten die Schuhe nun immer und auf jeden Fall vor der Wohnungstür ausgezogen werden, um keine Radioaktivität von der Straße hereinzutragen. In den Nachrichten ging es um Anreicherung, Halbwertzeiten, Risikolebensmittel – Wild, Innereien, Pilze – und die Frage, ob die Bauern Süddeutschlands ihre Feldfrüchte lieber gleich unterpflügen sollten, statt sie zu ernten. Die schlimmste Angst hielt sich nicht länger als ein paar Wochen, doch die persönliche Begegnung mit dem Albtraum entwickelte eine nachhaltige Wirkung.
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gehört zu den prägenden Erfahrungen meiner Generation. Sie schien die schlimmsten Befürchtungen der Anti-Atomkraft-Bewegung zu bestätigen, bestärkte die Demonstranten auf dem Gelände der geplanten Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf, in Brokdorf und Gorleben in ihrer verzweifelten Ablehnung der Atomprojekte, weckte erschreckende Erinnerungen an »Die letzten Kinder von Schewenborn« von Gudrun Pausewang, das in den frühen Achtzigern eine beliebte Schullektüre war. Sollte sich die Menschheit am Ende doch nicht, wie bei Pausewang, durch einen Atomkrieg selbst ihrer Lebensgrundlage berauben, sondern durch schlichte Schusseligkeit im Umgang mit hochgefährlicher Technik? All die Emotionen, die 2011 von der Kraftwerkskatastrophe im japanischen Fukushima ausgelöst wurden, erlebten wir damals schon einmal.
Für einen damals 20-jährigen Waisen aus Hannover hatte die Katastrophe von Tschernobyl eine noch ungleich persönlichere Bedeutung. Der Hacker Karl Koch alias »Hagbard Celine«, zu diesem Zeitpunkt bereits schwer kokainabhängig, im Griff einer sich entwickelnden Psychose und besessen von Verschwörungstheorien über heimliche Weltherrscher, glaubte, er sei schuld am Super-GAU. Kurz vor dem Reaktorunfall war er mithilfe seines Rechners und einer Telefondatenverbindung in russische Computersysteme eingedrungen. Nun hielt er sich für den Verursacher der Katastrophe. Kurze Zeit später landete Koch in der Psychiatrie. Drei Jahre später war er tot, und bis heute ist umstritten, ob er sich umgebracht hat oder ermordet wurde. Karl Koch ist eine Schlüsselfigur in der Entwicklung der Beziehung zwischen den Deutschen und dem Digitalen – auch wenn seinen Namen bis heute kaum jemand kennt.
Der Regisseur Hans-Christian Schmid hat Karl Koch in seinem Film »23« ein Denkmal gesetzt. August Diehl spielt ihn darin als einen Gehetzten, Getriebenen, verzweifelt nach Wahrheit Suchenden. Für ihn sei Kochs Tod der Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit Deutschlands junger Hacker-Szene gewesen, schrieb Schmid später: »Wieso musste Karl sterben? Das war die Frage, zu der wir immer wieder zurückgekehrt sind.« Aus heutiger Sicht ist Kochs Tod ein Wendepunkt: Der 23. Mai 1989 war der Tag, an dem die deutsche Hacker-Bewegung endgültig ihre Unschuld und jede spielerische Leichtigkeit verlor.
Auch wenn inzwischen als erwiesen gelten kann, dass Karl Koch rein gar nichts für die Kernschmelze in Block vier des Kraftwerks in Tschernobyl konnte – völlig abwegig war seine fixe Idee, er sei dafür verantwortlich, nicht. Immerhin gehörte er Mitte der achtziger Jahre zur Gruppe der effektivsten kriminellen Hacker Deutschlands. Von den vergleichsweise harmlosen digitalen Aktivitäten der Cracker und Democoder war das, was Koch und seine Kumpel konnten und taten, meilenweit entfernt – obwohl er, genau wie sie, mit einem Commodore 64 angefangen hatte.
Berühmt wurden Koch und seine Komplizen »DOB«, »Pengo« und »Urmel«, weil sie in
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