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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Stoecker
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einem normalen Münztelefon aus jederzeit eine neue Identität verschaffen kann: eine Art Super-Phone-Phreak. Er wird schließlich zum Schöpfer des ersten Computer-wurms, eines sich selbst replizierenden digitalen Organismus, der es ihm ermöglicht, das von der Regierung kontrollierte nationale Computersystem aus den Angeln zu heben, um einen Atomkrieg zu verhindern.
    Genau so wollten sich viele der erfolgreichsten Hacker der achtziger Jahre selbst sehen. »Der Schockwellenreiter« erschien im Jahr 1975 – drei Jahre vor der Eröffnung der ersten privaten Mailbox, 23 Jahre vor dem Start von Google und 13 Jahre, bevor der amerikanische Student Robert Morris 1988 versehentlich den ersten echten Computerwurm der Geschichte freisetzte. Bis heute ist das Buch ein unterschätzter, prophetischer Meilenstein.
    Dass das Leben manchmal die Kunst imitiert, ist nichts Neues: Mafia-Fahnder etwa berichten immer wieder davon, dass manche Figuren des organisierten Verbrechens versuchen, sich so zu benehmen, so zu kleiden, so zu sprechen wie die Antihelden aus Francis Ford Coppolas »Der Pate« oder Martin Scorseses »Goodfellas«. Selten aber dürfte die Wirkung von Literatur auf reale Entwicklungen so unmittelbar gewesen sein wie im Fall der Computerkids der Achtziger. Die Belege für diese These sind mannigfach: Viele Mailboxen trugen zum Beispiel eindeutig auf Gibson und andere Cyberpunk-Autoren verweisende Namen.
    Eine legendäre Hacker-Mailbox, die in den späten Achtzigern von den Mitgliedern der nicht minder legendären amerikanischen Hacker-Truppe »Legion of Doom« frequentiert wurde, trug den Namen »Black Ice«. Überhaupt waren die vielen Facetten der Nerd-Kultur eine Hauptquelle für all die seltsamen Spitznamen vieler Hacker, Cracker und Democoder. Ein berühmter norwegischer Kopierschutzknacker führte den Kampfnamen »Sauron«, Cracker-Gruppen nannten sich »Arkham« (eine fiktive Stadt im Werk von H. P. Lovecraft und der Name des Irrenhauses in »Batman«-Comics), »Deathstar« (der Todesstern aus »Star Wars«) oder schlicht »Fantasy«. »Legion of Doom« ist eigentlich der Name der bösen Gegenorganisation zur »Legion der Superhelden« im Comic-Universum des DC-Verlags – ihr Anführer, in der Comic-Welt wie im digitalen Untergrund, wurde »Lex Luthor« genannt. Der erste Chefanwalt der Bürgerrechtsorganisation »Electronic Frontier Foundation« – von ihr wird noch zu reden sein – nannte sich online »Johnny Mnemonic«, nach einer Figur aus einer Kurzgeschichte von William Gibson. Und eines der ältesten und bekanntesten deutschen Weblogs heißt noch heute »Der Schockwellenreiter«. Kurz: Die Avantgarde des digitalen Untergrunds dies- wie jenseits des Atlantiks hätte samt und sonders zur Stammkundschaft der Romanboutique gehören können.
    Zu den Fans abseitiger Science-Fiction, insbesondere des »Schockwellenreiters« und der »Illuminatus!«-Trilogie gehörten auch der Gründer des »Chaos Computer Clubs«, Wau Holland, und der deutsche KGB-Hacker Karl Koch. Die Hacker-Truppe, der der spätere WikiLeaks-Gründer Julian Assange Ende der Achtziger in Australien angehörte, nannte sich selbst »Cypherpunks«. Rund um den Globus fühlten Hacker eine Seelenverwandtschaft zu den Helden aus den Romanen von Gibson, Brunner und Co. Die unaufhaltsame Ausbreitung von Datennetzen, die Entfaltung dieses neuen, digitalen Raums schienen diese Autoren vorausgesehen zu haben. Deutschlands heute berühmtester Hacker zerbrach am Ende vielleicht daran, dass er den Unterschied zwischen Fiktion und Realität nicht mehr erkennen konnte. Ohne etwas über sein Schicksal, seine Taten und deren Folgen zu wissen, ist es kaum möglich, Deutschlands heutigen Blick auf Computer und das Internet zu verstehen.

Kapitel 4
     

Hacker = Verräter
     
    Im Jahr 1983 bezogen die ersten Bundestagsabgeordneten der Grünen, darunter Petra Kelly, Antje Vollmer, Joschka Fischer und Otto Schily, ihre Büros in einem Hochhaus namens Tulpenfeld an der Bonner Konrad-Adenauer-Allee. Zum mitgebrachten Mobiliar gehörte unter anderem eine abgestorbene Tanne als mahnendes Symbol für das Waldsterben. Zwei Jahre später, 1985, brachte der junge Fraktionsmitarbeiter Joachim Schmillen statt einer toten Zimmerpflanze einen PC in sein Büro. Viele Grünen-Abgeordnete waren schockiert: Der Computer werde doch sicher eine »arbeitsplatzzerstörende« Wirkung entfalten. Nach einer heftigen Debatte zwang die Fraktion Schmillen, das Gerät wieder mit nach

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