Nerd Attack
interessante Artikel, lustige Videos, faszinierende Fotostrecken im Netz hin. Sie machen ihrem Ärger über eine Politikeräußerung Luft. Sie reißen Witze über das Ergebnis einer eben zu Ende gegangenen Bundesligapartie. Sie tippen »Rest in peace, Michael« ins Twitter-Eingabefenster. Kurz: Sie reden über Nachrichten und Neuigkeiten.
Bei Plattformen wie Facebook und eben auch Twitter finden 24 Stunden am Tag übers Netz vermittelte Konversationen statt. Manchmal eher asynchron (das trifft vor allem auf Facebook zu), manchmal auch nahezu in Echtzeit – als ob die Teilnehmer des Gespräches gerade gemeinsam am Tisch säßen oder im Aufzug stünden. Genauso fühlen sich Twitter-Konversationen auch oft an: Es sind »Haste schon gehört?«-Gespräche, vielleicht mit ein, zwei schnell eingestreuten Witzen. Schon macht es »Bing!«, die Aufzugtür öffnet sich und das Gespräch ist vorbei. Für Menschen, die in einer Community oder bei Twitter ein großes Netzwerk haben, kommt dabei an einem einzigen Tag ziemlich viel »Haste schon gehört?« heraus. Je breiter und differenzierter das Netzwerk des Einzelnen ist, desto relevanter sind die Informationen, die da vermittelt werden, und desto schneller erreichen ihn interessante Geschichten wie etwa die, dass im Hudson River gerade ein Flugzeug notgelandet ist, eine Nachricht, die samt Foto vom Twitter-Account eines New Yorkers aus um die Welt ging, bevor sie die klassischen Medien melden konnten.
Durch Kaskaden des Weitererzählens können einzelne Links oder Informationen rasend schnell durch ein Netzwerk wandern. Die Geschwindigkeit ist umso höher, je mehr Menschen sie für interessant halten und deshalb weiterreichen – »retweeten«, wie das bei Twitter heißt. Für Menschen, deren Netzwerke gut sortiert sind, gilt daher tatsächlich: »The news will find me.«
Solche globalen Gesprächsrunden waren bei jedem größeren Nachrichtenereignis der letzten Jahre zu beobachten. Kurze Zeit nach den Attacken auf zwei Hotels und mehrere andere Ziele in Mumbai im November 2008 verbreitete sich die Nachricht über Twitter. Die technikaffine junge Elite im Zentrum der indischen Finanzmetropole nutzte ihre Handys, um erste Kurznachrichten über die Ereignisse vor Ort abzusetzen. Blog-Einträge, ein Flickr-Fotoset und ein Google-Maps-Mashup mit Markierungen und Informationen über die Anschlagsorte folgten bald. Das soziale Netz hängte die alten Medien ab, was die Verbreitung und Verarbeitung von Nachrichten anging – wenn auch nur kurzfristig.
»In den letzten 35 Minuten haben sechs laute Explosionen das Trident-Hotel erschüttert«, schrieben zu Beginn der Anschlagsserie gleich mehrere Twitterer. Die Nachricht kam damit gewissermaßen in Echtzeit auf der anderen Seite des Globus an, lange bevor Nachrichtenagenturen die Detonationen meldeten, Stunden vor ersten TV-Berichten zum Thema. Die internationalen Mainstream-Medien haben jedoch gelernt: Sie bedienen sich der neuen Nachrichtenströme, um möglichst schnell an Stimmen vom Ort des Geschehens, möglichst an Augenzeugenberichte zu kommen.
Der indische Blogger Vinukumar Ranganathan etwa wurde von CNN interviewt, weil er einer der Ersten war, die Bilder lieferten. Er wohnte nur zwei Minuten von einem der Anschlagsorte in Mumbai entfernt, nahm seine Kamera, ging hinaus auf die Straße und fotografierte herumliegenden Schutt, umgestürzte Motorroller und Blutflecken auf dem Asphalt. »Sie haben zwar die Anschläge nicht gesehen«, fragte der CNN-Interviewer, »aber wie haben Sie sich gefühlt?«
Blogger Amit Varma hatte einen Eintrag über seine persönlichen Erlebnisse in der Terrornacht verfasst, er berichtete, dass er in einem Hotel untergekommen sei, weil der Heimweg zu unsicher schien. Mit dem tatsächlichen Grauen der Anschläge kam er nicht in Berührung. Später schrieb Varma in sein Blog: »Ich war vor ungefähr drei Stunden in ›Larry King Live‹ auf CNN. Die hatten mich angerufen und mich gebeten, als Augenzeuge in der Show aufzutreten. Ich habe protestiert, weil ich doch gar nichts gesehen hatte, ich war nur in der Nähe.«
Eine Reihe von betroffenen oder zumindest in der Nähe lebenden Netznutzern bemühte sich, Informationen weiterzureichen. Um sie herum jedoch stand (virtuell) eine ungleich größere, laut schwatzende Gaffergruppe. Und einige der Gaffer waren Profis, denen die neuen medialen Möglichkeiten vor allem dazu dienten, in Windeseile an möglichst emotionalisierende Interviewpartner zu
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