Nesbø, Jo - Harry Hole - 02
versuchte er, nicht an die Geschichte von de m Jungen zu denken, der beim Jahrmarkt im Romsdal die Fahnenstange heruntergerutscht war, ohne an den Haken zu denken, an dem das Seil befestigt wurde.
Sein Großvater hatte im mer behauptet, seine Kastrationsschreie seien quer über den Fjord zu hören gewesen.
Løken stand neben ihm.
»Oh, das ging aber schnell«, flüsterte Harry.
»Die Seniorengymnastik des Tages.«
Mit dem Rentner vor sich rannte Harry geduckt über den Rasen an der Hauswand entlang, bi s sie an der Ecke stehen blieben. Løken nahm das Nachtsic htgerät und wartete, bis er sicher sein konnte, dass der W achmann in eine andere Richtung sah.
»Jetzt!«
Harry rannte und versuchte sich einzubilden, er sei unsichtbar.
Es war nicht weit bis zur Garage, aber es war hell und nichts 308
verdeckte die Sicht zum W achhäuschen. Løken folgte ihm auf dem Fuß.
Harry hatte gemeint, es gäbe ni cht so viele Varianten, in ein Haus einzubrechen, aber Løken hatte darauf bestanden, alles bis ins kleinste Detail zu p lanen. Als er betont hatte, dass sie das letzte kritische Stück eng beieinander laufen mussten, hatte sich Harry gefragt, ob es nicht besser sei, einer nach dem anderen die freie Fläche zu überqueren, während der andere Wache hielt.
»Was wollen Sie den n bewachen?«, hatte Løken irritiert gefragt. »Wir werden schon merken, wenn wir entdeckt werden.
Wenn wir nacheinander laufen, ist die Chan ce, entdeckt zu werden, doppelt so groß. Sagen Sie mal, lernen Sie h eute gar nichts mehr auf der Polizeischule ?« Harry hatte beim restlichen Plan keine Einwände mehr.
Ein weißer Lincoln Continental thronte in der Garage, aus der tatsächlich eine Seitentür ins Haus f ührte. Løken hatte gemeint, das Schloss dieser Tür sei leichter zu öffnen als das der Haustür, außerdem könnten sie hier von der Einfahrt aus nicht gesehen werden.
Er holte den Dietrich heraus und begann zu arbeiten.
»Nehmen Sie die Zeit?«, flüste rte er und Harry nickte. Laut Plan waren es noch sechzehn Mi nuten bis zur nächsten Runde des Wachmanns.
Nach zwölf Minuten s pürte Harry, wie es ih n am ganzen Körper zu jucken begann. Nach dreizehn Minuten wünschte er sich, dass Sunthorn ganz zufäll ig vorbeikam. Nach vierzehn Minuten sah er ein, dass sie di e Operation abbrechen m ussten.
»Lassen Sie uns abhauen!«, flüsterte er.
»Nur noch einen kleinen Mom ent«, keuchte Løken über das Schloss gebeugt.
»Wir haben keine Zeit mehr.«
»Nur noch ein paar Sekunden.«
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»Nein, jetzt!«, fauchte Harry durch zusamm engebissene
Zähne.
Løken antwortete nicht. Harry atmete ein und legte seine Hand auf Løkens Schulter. Løken dreh te sich zu ihm um und ihre Blicke begegneten sich. Ein Goldzahn blitz te auf. »Offen«, flüsterte Løken.
Die Tür glitt lautlos auf. Sie schlichen hinein und schlossen sie leise wieder. Im gleichen Mom ent hörten sie Schritte in der Garage, dann sahen sie das Lich t einer Taschenlampe durch das Fenster scheinen, und plötzlic h rüttelte jemand brutal a m
Türgriff. Sie standen mit dem Rücken zur Wand. Harry hielt die Luft an und spürte sein Herz schlagen und das Blut durch seinen Körper pumpen. Dann entfernten sich die Schritte.
Harry konnte kaum leise sprechen. »Zwanzig Minuten, haben Sie gesagt!«
Løken zuckte mit den Schultern. »Ein paar Minuten mehr oder weniger.«
Harry zählte, während er durch den offenen Mund atmete.
Sie schalteten ihre Tas chenlampen ein und wollten ins Haus gehen, als es unter Harrys Schuhen knirschte.
»Was ist das? « Er leuchtete zum Boden. Auf dem Parkett lagen kleine, weiße Klümpchen.
Løken leuchtete an die weiß gekalkte Wand.
»Also wirklich, Klipra hat gem ogelt. Dieses Haus sollte angeblich ausschließlich aus Teak ge baut sein. Jetzt verliere ich aber wirklich den Respekt vor diesem Kerl«, s agte er sark astisch. »Los, Harry, die Uhr tickt.«
Sie durchsuchten das Haus rasch und system atisch, wobei
Løken die Anweisungen gab. Harry konzentrierte sich darauf, das zu tun, was ihm gesagt wurde, in Erinnerung zu behalten, wo die Dinge gelegen hatten, ehe er sie aufnahm, keine Fingerabdrücke auf den weißen Türen zu hinterlassen und darauf zu 310
achten, dass an den Schubladen und Schränken, die er öffnete, keine Klebestreifen befestigt waren. Nach fast drei S tunden setzten sie sich an den Küch
entisch. Løken hatte ein paar
Kinderpornoblätter und einen Revolver gefunden, m it dem
anscheinend schon einige
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