Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
die Landschaft! Er befand sich in dem Eisenbahnzug, dessen Strecke von Edinburgh aus nordwärts in das schottische Hochland führte. Und wenn ihn nicht alles täuschte, dann würde er gleich Dowally passieren, um wenig später Ballinluig zu erreichen.
Jonathan war diese Strecke schon oftmals gereist – immer, wenn er seinen Großvater in den Ferien besuchte. Also hatte Sir Malmek wirklich Dr. Dicks Rat befolgt und Jonathan nach Hause geschickt. Von dem kleinen Bahnhof von Ballinluig würde die Entfernung bis Bridge of Balgie und schließlich noch hinauf zum Anwesen der Jabboks kaum mehr als dreißig Meilen betragen. Erwartungsvolle Spannung ergriff Jonathan.
Bridge of Balgie war sehr abgelegen; es war eine Ansammlung von Häuschen, die nur mit viel gutem Willen als Dorf zu bezeichnen war. Aber all das hatte Jonathan nie gestört. Obwohl er das Meer liebte, überwältigte ihn doch auch immer wieder die schroffe Berglandschaft des Hochlandes. Jabbok House blickte auf das kleine Flüsschen Lyon hinab. Berge wie der fast viertausend Fuß hohe Ben Lawers und der etwas kleinere Meall nan Tarmachon im Süden sowie der Schiehallion im Nordosten bestimmten das Panorama des Familiensitzes der Jabboks.
Als die Eisenbahn bei Dowally ein letztes Mal den Tay kreuzte, erinnerte sich Jonathan an Erzählungen seines Großvaters über die große Tay-Brücke, die die Mündung des Flusses bei Perth überspannte. Im Jahre 1879 – gerade achtzehn Monate nach ihrer Fertigstellung – war sie plötzlich eingestürzt und über siebzig Menschen hatten den Tod gefunden. Jonathan schüttelte sich und wurde endgültig wach. Er war froh, die letzte Brücke auf seiner Tour hinter sich zu haben und wieder in der Gegend zu sein, die er als sein Zuhause betrachtete.
Während die Dampflokomotive mit ihren Waggons wie eine rauchende, grüngoldene Raupe rumpelnd die letzten Meilen bis Ballinluig zurücklegte, kämpften das Hochgefühl ungeduldiger Erwartung und eine tiefe Nachdenklichkeit in Jonathan. Immer wieder stellte er sich dieselbe Frage: Wie war er in den Zug gekommen? Einzelne Fetzen des jüngsten Traumes flogen noch einmal an ihm vorüber. Seit dem Sturz von der Weltwind waren dort sieben Tage verstrichen. Doch was hieß das schon? Die Zeit in seinen Träumen war anderen Gesetzen unterworfen als die der Wirklichkeit. Der Wirklichkeit? Sein letzter siebentägiger Traum war so real gewesen! So, als wäre das die Wirklichkeit und sein jetziges Wachen nur ein bruchstückhafter Traum, von dem er ab und zu – immer seltener, wie es ihm schien – heimgesucht wurde. War er krank? Oder steckte mehr dahinter?
Dr. Dick hatte sich über ihn lustig gemacht. In den Augen des Arztes waren Jonathans Vermutungen ein Hinweis mehr für seinen geistig desolaten Zustand. Den Zusammenstoß mit Mister Garson hatte Dr. Dick dafür verantwortlich gemacht – oder auch irgend eine andere »besondere Aufregung oder Anstrengung«. Pah, als wenn diese Auseinandersetzung eine besondere Anstrengung gewesen wäre!
Nein, die Geschehnisse um ihn herum mussten eine andere Ursache haben. Doch welche? Jonathan beschloss vorerst weder seinem Großvater noch sonst jemandem etwas von seiner zweiten großen Erinnerungslücke zu verraten. Er würde einfach so tun, als wäre nichts geschehen.
Mit lautem Pfeifen fuhr die Dampflok in den kleinen Bahnhof von Ballinluig ein. Ein Holzdach überspannte den Bahnsteig, ein Schutz gegen den so häufigen Regen in den Highlands.
Dieser Tag war eine Ausnahme. Das Sonnenlicht, das immer wieder die Wolkendecke durchbrach, erschien Jonathan hier klar und rein. Sein Herz schlug schneller, als der Zug mit lautem, metallischen Quietschen endlich zum Stillstand kam. Erfreut entdeckte er, dass sein Großvater persönlich am Bahnsteig stand und ihm zuwinkte – das war nicht selbstverständlich und deshalb umso schöner. Jonathan winkte freudestrahlend zurück.
Neben der stattlichen Erscheinung des Lords bemerkte er die wohl vertraute, schmächtige Gestalt Alfreds, des Hausdieners von Jabbok House. Jonathan konnte sich nicht vorstellen, dass Alfred jemals jung gewesen war. Er schien so alt zu sein wie der Familiensitz der Jabboks selbst. Tatsächlich hatte er schon Jonathans Urgroßvater gedient und obwohl er seine Verpflichtungen in der letzten Zeit wegen zahlreicher Gebrechen nur noch unvollkommen erfüllen konnte, hatte sich Lord Jabbok in dem ihm eigenen Starrsinn stets geweigert Alfred aus seinen Diensten zu entlassen. Der kleine,
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