Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
erstarrt. Einige lagen zusammengekrümmt auf dem Boden und zitterten vor Angst. Zirah war mit dem Rücken zur Erde gefallen und wie tot liegen geblieben.
Unmittelbar hinter sich fand Yonathan seinen Freund. Er zupfte an Yomis Ärmel, um ihn dazu zu bewegen, die Augen zu öffnen. Als Yomi vorsichtig durch die Wimpern lugte und erstaunt feststellte, dass sein kleiner Begleiter noch immer als Ganzes vor ihm stand, rief ihm Yonathan zu mitzukommen. Yomi verstand jedoch kein Wort – noch immer klang Haschevets heller, übernatürlicher Glockenton in seinen Ohren nach. Yonathan fasste ihn am Arm und erklärte durch Handzeichen, dass es nun höchste Zeit wäre den Lagerplatz zu verlassen. Man konnte nicht wissen, wie lange der Schock noch anhalten würde. Als sie den Rand des Lagers erreicht hatten, drehte Yonathan sich noch einmal um. Der Anblick des grauschwarzen Aschehaufens, der eben noch Gavroq gewesen war, brannte sich in sein Gedächtnis ein. Yomi zog Yonathan mit sich. Gemeinsam flohen sie in das Dickicht des nächtlichen Waldes.
»Du willst also wirklich in die Richtung, in der sich der Sumpf befindet?«, keuchte Yomi.
»Genau«, presste Yonathan zwischen den Zähnen hervor. Sein Fuß schmerzte heftig. Obwohl Yomi ihn während ihrer Flucht gestützt hatte, glaubte Yonathan jeden Moment ohnmächtig zu werden.
»Aber ist das nicht ziemlich gefährlich?«
»Ja.«
»Ich meine, vorhin hast du noch gesagt, dass es besser wäre, zu versuchen, zwischen unseren Jägern hindurchzuschlüpfen, als es mit dem Sumpf aufzunehmen. Und jetzt laufen wir geradezu darauf los.«
»Vorhin sind wir ja auch gefangen worden.«
»Da geht’s weiter.«
Durch den Regenwald tönten die Stimmen von Kriegshörnern, Männern und aufgeschreckten Tieren. Sethurs Krieger hatten die Verfolgung schnell aufgenommen. Regen setzte ein.
Yonathan fühlte das Näherrücken des Sumpfes. Etwas krampfte sich in ihm zusammen. Wieder kämpfte er mit der Verzweiflung. Er hatte einen Mann getötet! Nein, nicht er war es gewesen. Haschevet hatte es getan. Aber war das ehrlich? Ein Soldat kann nicht seinem Schwert die Schuld am Tode der von ihm Erschlagenen geben. Aber was hätte er sonst tun sollen? Er biss sich auf die Unterlippe. Und er hatte diese Entscheidung treffen müssen. Schließlich ging es um Yomis Leben und noch um viel mehr: Der Stab der Macht musste seiner Bestimmung zugeführt werden. Davon hing das Erscheinen des siebenten Richters ab und vor allem, wer nach der Weltentaufe die uneingeschränkte Gewalt über Neschan ausüben würde – die Mächte der Finsternis oder diejenigen des Lichts.
So viele vernünftige Argumente Yonathan auch fand, so wenig wollte es ihm gelingen die nagenden Zweifel zu vertreiben. »Besiege das Böse mit dem Guten«, hatte Benel ihm gesagt. Konnte man es wirklich als gut bezeichnen, was er dem Hauptmann Sethurs angetan hatte? War das etwa die vollkommene Liebe, von der Benel gesprochen hatte? Hatte er wirklich als ein Werkzeug Yehwohs gehandelt oder war er bereits ein Komplize des Bösen geworden? Irgendwie fühlte er sich ungerecht behandelt. Er hatte sich schließlich nicht um all das bemüht. Es war einfach über ihn gekommen. Er schüttelte den Kopf, Regentropfen stoben in alle Richtungen davon. Er musste weiter. Ein Werkzeug bekommt seinen wahren Wert erst durch die meisterliche Hand, die es führt. »Habe Geduld und du wirst es erleben.« Auch das hatte Benel ihm einst in Kitvar prophezeit. Yonathan beschloss alles zu tun, ein gutes Werkzeug zu sein. Der Auftrag sollte nicht an ihm scheitern. Aber das wutentbrannte Gesicht Gavroqs konnte er trotzdem nicht vergessen.
»Riechst du auch, was ich rieche?«
Yonathan hatte es gerochen. Es waren die modrigen Ausdünstungen des Sumpfes. Aber warum darüber reden? Er nickte schwach und vergaß, dass sein Freund dies nicht sehen konnte. Ihr Weg stand ohnehin fest: Entweder sie fanden einen Pfad durch den Sumpf oder sie fanden den Tod durch Sethurs Krieger.
Die Geräusche der Verfolger waren lauter geworden. Mit ihren Schwertern kämpften sich Sethurs Männer durch den Wald. Sie hatten eine Kette gebildet und trugen Fackeln – unmöglich, zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen.
Yonathan spürte einen Druck im Kopf. Jemand schien seinen Geist in ein Kissen einzupacken. Nur zu gerne hätte er sich dieser Einladung hingegeben. Ein wenig Ruhe nur und es würde ihm sicher bald besser gehen. Doch es war nicht die richtige Zeit zum Ruhen. Sie mussten weiter, mussten
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