Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Aufbruch drängen. Yomi schwebte in höchster Gefahr! Yonathan warf seinem Freund einen kurzen Blick zu. Er musste etwas tun. Sofort!
Er trat einen Schritt auf Yomi zu, sodass sie Seite an Seite standen und wandte sich herausfordernd an Sethur. »Wer von Euren Männern soll uns beide denn trennen. Etwa Euer zahnloser Hauptmann dort?«
Gavroqs Rechte zuckte zum Schwertknauf, doch Sethurs Arm schob sich wie ein Riegel vor die Brust des Hauptmannes und hielt ihn zurück.
Sethur lächelte überlegen. »Es wird nicht sehr schwer sein, Euch von Eurem scheckigen Freund zu trennen. Ich habe hervorragende Bogenschützen. Die können einen Mann auf dreihundert Fuß niederstrecken.«
»Das würde Eurem verspielten Hauptmann aber sicher die Freude verderben. Allerdings glaube ich sowieso nicht, dass er den Mut hätte gegen zwei Gegner gleichzeitig anzutreten.«
Die Wut verzerrte Gavroqs Gesicht und wieder verhinderte nur Sethurs ausgestreckter Arm, dass er auf Yonathan losging.
Der Heeroberste ließ nun die vorgeschobene Freundlichkeit fallen. Mit bedrohlich ruhigem Ton sagte er: »Haltet Euch zurück, Yonathan. Ihr seid nur ein Knabe. Wie könnt Ihr es wagen die Diener Bar-Hazzats zu beleidigen?«
»Nur ein Knabe?«, versetzte Yonathan mit ätzender Verachtung. »Ja, das ist wohl wahr. Und trotzdem reicht das schon aus, um Eurem Hauptmann so viel Angst einzuflößen, dass er sich in die Hosen macht und sich hinter Eurem Rücken verstecken muss. Aber was ist das schon für ein Schutz? Die rechte Hand Bar-Hazzats hat ja selbst nicht den Mumm einen Knaben von einem Jüngling zu trennen, wie könnten es da seine Speichellecker tun?«
»Das reicht!«, brüllte Gavroq. Der kleine Teil seines Gesichts, der zwischen Helm und Bart zu sehen war, hatte inzwischen die Farbe einer prallen Hagebutte angenommen. Mit unerwarteter Geschmeidigkeit wandte sich Gavroq unter Sethurs Arm hindurch und stürzte auf Yonathan zu. Im Sprung riss er sein gebogenes Schwert aus der Scheide und hob beide Arme hoch über den Kopf. Alle Zuschauer rechneten damit, dass Yonathans Körper im nächsten Augenblick in zwei Hälften zu Boden sinken würde – fast alle.
Der Angriff kam für Yonathan nicht überraschend. Gerade dazu hatte er den Hauptmann ja treiben wollen.
Die Ereignisse schienen nun in grotesker Langsamkeit abzulaufen, so, als müssten sich alle Beteiligten durch zähen Honig hindurchkämpfen. Ein Schrei ertönte: »Nein!« Es war nur ein Wort, aber es erschütterte Mark und Bein. Sethur war dieser Ruf entfahren und er tönte in aller Anwesenden Geist – so wie damals, bei der Wettfahrt zwischen der Weltwind und der Narga. Es war ein lang gezogener, klagender Ausruf, der gleichermaßen ohnmächtige Wut, Verzweiflung und sogar Furcht zum Ausdruck brachte. Doch auch dieser Ruf konnte den Lauf der Dinge nicht mehr aufhalten.
Yonathan fasste Haschevet mit beiden Händen an den Enden, machte einen Schritt auf den heranstürmenden Gavroq zu und warf die Arme in die Höhe. Keinen Moment zu spät, denn schon sauste der schwarze, Temánahische Stahl auf ihn hernieder, direkt auf seinen Kopf zu.
Yomi kniff wieder die Augen zusammen – mehr, um das scheinbar unabwendbare Geschick seines Freundes nicht mit ansehen zu müssen, als der Warnung folgend, die Yonathan ihm zuvor zugeraunt hatte. Auch Yonathan schloss die Augen, zog den Kopf zwischen die Schultern und biss die Zähne zusammen. Da spürte er auch schon, wie Gavroqs Rundsäbel den Stab Haschevet traf. Aber da war keine Wucht in diesem Schlag! Das Zusammentreffen von Holz und Stahl tönte seltsam entrückt – wie von einer meilenweit entfernten Schmiede, von der der Wind nur einen einzigen Schlag herüberträgt. Doch dieser geradezu zarte Klang des Säbels fand seinen Widerhall in Haschevet und schwoll an zu einem donnernden Glockenschlag. Gleichzeitig durchzuckte ein Lichtstrahl wie von tausend Blitzen die Nacht.
Sobald der helle Schein verschwunden war, suchte Yonathan blinzelnd nach Yomi. Schaudern ergriff ihn, als er zu seinen Füßen ein rauchendes Häufchen Asche sah, in dessen Mitte ein zerbrochener Säbel lag. Obwohl er sich geschützt hatte, sah er kleine Lichtpunkte vor seinen Augen tanzen.
Das Lager bot einen unwirklichen Anblick. Sethur stand noch immer an der gleichen Stelle, die Hände gegen die Ohren gepresst und den eingezogenen Kopf, so gut es ging, zwischen den vorgestreckten Unterarmen vergraben. Er atmete schwer. Viele seiner Männer waren in ähnlichen Posen
Weitere Kostenlose Bücher