Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
beiden schloss, war Jonathan gespannt, was nun geschehen würde.
»Theo?«, ertönte Lord Jabboks Stimme, während er sich langsam umdrehte.
»Ja, Mylord.«
»Tu das nie wieder!«
Theodor Galloway schaute verwirrt. »Aber…«
»Verschweige mir nie wieder etwas – weder, wenn dir ein Missgeschick widerfährt, noch, wenn du Hilfe benötigst. Komm damit zu mir. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
»Ja, Mylord. Ich danke Euch, Mylord.«
»Danke nicht mir, sondern Jonathan. Ohne ihn hätte ich vielleicht zugelassen, dass ein großes Unrecht geschieht. Aber er hat mir zum Glück noch rechtzeitig den Kopf gewaschen. Der Junge scheint mehr Grips im Hirn zu haben als so ein klappriger, alter Kerl wie ich.«
»Jetzt übertreibst du aber, Großvater! So klug wie du bin ich noch lange nicht«, meinte Jonathan.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann ergriff Theodor das Wort und wandte sich an Jonathan: »Ich weiß, wem ich Dank sagen muss, Jonathan. Dir habe ich es zu verdanken, dass alles gut geworden ist.«
Jonathan freute sich, dass der Hirte sich ausgerechnet ihm verbunden fühlte. »Ich hab nur ein Unrecht verhindern wollen«, sagte er leise.
»Wie dumm, dass ich vergessen konnte, was ich an dir habe, Theo«, unterbrach schließlich der alte Lord die Stille. »Du hast nicht uns zu danken, sondern wir dir.« Er räusperte sich, straffte die Schultern und fügte wesentlich energischer hinzu: »Und jetzt geh nach Hause und bleibe bei deiner Jenny, bis der Arzt gekommen ist. Ich werde sogleich nach ihm schicken lassen. Ach, und noch eins, Theo!«
»Mylord?«
»Dein Sohn scheint mir ein tüchtiger Bursche zu sein.«
»Ich gebe mir alle Mühe, Mylord.«
Aus dem wettergegerbten Gesicht des Hirten war jede Spur von Niedergeschlagenheit verschwunden. Fröhlich wie ein Schuljunge dankte Theodor noch ein letztes Mal und stürmte davon.
»Nun?«, fragte Lord Jabbok mit zufriedener Miene die beiden verbliebenen Zeugen der Verhandlung. »Wie habe ich das gemacht?«
Mit unbewegtem Gesicht erklärte Alfred: »Ich hätte mir ein wenig mehr Feinfühligkeit vorstellen können. Die Nummer mit dem Hund war doch reichlich roh – für meinen Geschmack.«
»Dir kann man wohl gar nichts recht machen!«, empörte sich der alte Lord.
»Ihr habt mich nach meiner Meinung gefragt«, konterte Alfred.
»Das stimmt. Ich werde diesen Fehler kein zweites Mal begehen. Geh jetzt und gib dem jungen Thomas im Herrenzimmer Bescheid, dass er schnell nach Hause laufen soll. Vielleicht holt er seinen Vater ja noch ein.«
»Sehr wohl, Mylord.«
»Bist du auch der Meinung, dass ich zu roh war?«, fragte Lord Jabbok seinen Enkel, nachdem Alfred aus dem Raum gegangen war.
Jonathan lächelte. »Es war zumindest sehr phantasievoll, Großvater. Mir wäre so etwas gewiss nicht eingefallen.«
»Ach komm«, meinte der Lord, »du hast doch noch viel mehr Einfallsreichtum als ich. Schließlich war es dein Traum von diesem Lemor, durch den sich alles zum Guten gewendet hat.«
»Und von Navran Yaschmon, Großvater.«
»Ja, und von Navran Yaschmon. Fast schade, dass deine Träume jetzt aufgehört haben. Wer weiß, was wir von dem alten Fischer noch so alles gelernt hätten!«
Jonathan wechselte das Thema: »Jedenfalls bin ich froh, dass du der Herr auf Jabbok House bist, Großvater. Mir hat Ronald trotz allem ein wenig Leid getan. Ich weiß nicht, ob ich jemals solche Entscheidungen treffen kann.«
Der alte Mann wurde wieder ernster. »Es war auch für mich nicht leicht, Jonathan. Das kannst du mir glauben. Aber ich denke, es war gerecht so, und Gerechtigkeit ist manchmal sehr hart – nicht nur für den Bestraften, auch für den Richter.«
Jonathan legte, so gut es ging, den Arm um die Schulter seines Großvaters und drückte ihn an sich. »Ich bin froh, dass du mein Großvater bist, Großvater.«
»Und ich bin froh, dass du mein Enkel bist, Enkel.«
Das Fenster zur anderen Welt
Jonathan saß in seinem Rollstuhl und starrte gedankenverloren in die klare Nacht hinaus. Draußen jagten vereinzelte Wolkenfetzen am Mond vorbei wie auf der Flucht. Er liebte es, vor dem Einschlafen hier am Fenster, in der dunklen Stille seines Zimmers zu sitzen und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Im Haus hatten sich alle inzwischen in ihre eigenen Kammern zurückgezogen oder waren im Dorf bei ihren Familien. Jabbok House war zur Ruhe gekommen. Eigentlich hätte Jonathan längst schlafen sollen – er hatte auch schon im Bett gelegen –,
Weitere Kostenlose Bücher